Half-Life VR ist keine Lösung für eine Branche ohne Plan

Half-Life VR ist keine Lösung für eine Branche ohne Plan

Ein First-Person-Spiel nach dem anderen erscheint für VR, bald sogar Half Life: Alyx. Bloß braucht VR etwas ganz anderes. Ein Kommentar.

Ho, ho, ho! Was hat Santa euch unter den Weihnachtsbaum gelegt? Eine Oculus Quest vielleicht? Eine PlayStation VR? Oder die üblichen Socken? Gute neue VR-Spiele sind jedenfalls nicht dabei.

Hättet ihr euch halt eine Valve Index (Test) schenken lassen, die laut Kollege Max das heißeste Gerät seit Menschengedenken ist. Nach der Kaffeemaschine. Jedenfalls war der Hype groß, als Valve dieses Jahr Half-Life aus dem Ruhestand holte und Half-Life: Alyx (Infos) allen Flatgamern mit einem „VR Only“-Sticker vor den Latz knallte.

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Ich freue mich ja immer diebisch, wenn VR-Hassern digitale Grenzen gesetzt werden. Du liebst Half-Life, hasst aber VR? Dumm gelaufen. Immerhin haben sich viele neue Mr. Freemans gefunden, die eine Index geordert haben. Das Ding ist bis auf Weiteres ausverkauft.

Ist das jetzt also der große Durchbruch für VR? Werden die Leute sich noch mehr VR-Brillen kaufen, wenn die Gaming-Presse Valve mit hohen Wertungen streichelt? Ist endlich der Hochsommer für VR gekommen?

Alyx wird keine VR-Heilsbringerin

Das Half-Life: Alyx ziemlich gut wird, daran habe ich keinen Zweifel. Was Valve anfasst, machen sie richtig. Die Demo-Sammlung The Lab ist immer noch eine der besten virtuellen Showrooms für VR. Die gleiche Liebe zum Detail, zu sinnvollen Interaktionen und Mechaniken haben die Valve-Spezialisten sicher auch in Half-Life VR gesteckt.

Wer Platz für raumfüllendes VR hat oder zumindest eine Standfläche, in der das Controllergefuchtel sensible Geräte nicht existentiell bedroht, kann sich glücklich schätzen. Bis wir als Alyx gegen Headcrabs zu Felde ziehen, lässt sich die Zeit bestens mit dem VR-Rollenspielbrett Asgard’s Wrath vertreiben, oder ihr segelt ein bisschen in Stormland (Test) herum.

Action-Spiele aus der Ego-Perspektive bringen VR aber nur wenig weiter. Die Branche tritt auf der Stelle und hat abseits von Hardware-Experimenten keine Idee, wie sie den Markt entwickeln kann. Auch Half Life: Alyx wird die Popularität nur kurz anheizen, dann versackt VR wieder in seinem Henne-Ei-Problem. Denn seit der Markteinführung von VR 2016 rennen die Macher First-Person-VR, Roomscale, Action und Horror hinterher. Bloß sind diese Dinge nur für Hardcore-VR-Fans der heilige Gral. Man erreicht damit aber die wachsende, „normale“ Gamer-Zielgruppe nicht.

Gutes VR braucht nicht viel, um erfolgreich zu sein

VR soll prosperieren? Durchstarten, sich seinen Platz neben PC und Konsolen erkämpfen? Dann müssen die Einstiegshürden weiter gesenkt werden. Es hat seinen Grund, warum die PlayStation VR das beliebteste VR-Headset ist und sich mit Abstand am Besten verkauft. PSVR aufsetzen und im Sitzen, auf der Couch, ohne Probleme (wir ignorieren PS Move Controller und das fette Kabel an dieser Stelle geflissentlich) tolle PSVR-Spiele spielen.

Es muss nicht die hochauflösendste VR-Brille sein. Es muss kein Roomscale sein. Wir müssen nicht im Stehen mit Lichtschwertern fuchteln, damit VR fetzt. Aber die Software muss mehr liefern. Es braucht viel mehr geile Spiele, die mit möglichst geringem Aufwand für den Spieler ein Maximum an VR-Magie vermitteln.

Eine Branche ohne Plan

Hier versagt die Branche völlig. Sogar für die PSVR ist Ebbe, nach dem durchaus beeindruckenden Blood & Truth (Test) – wieder bloß Action! – kam im VR-Jahr 2019 überhaupt nichts mehr. Moss? Ist fast zwei Jahre her. Astro-Bot (Test)? Auch schon über ein Jahr. Fortsetzungen? Sind nicht in Sicht. Hat es sich denn so schlecht verkauft?

Moss (Test) ist unter den meistverkauften VR-Spielen des Jahres auf Steam. Die VR-Community weiß also durchaus, was gut ist. Außerhalb der VR-Blase kennt diese VR-Spiele-Perlen aber kaum einer. Fragt mal im Bekanntenkreis nach diesen Titeln. „Ist das ein Indie auf Steam?“, lautet die Rückfrage im besten Fall und man möchte weinend davonlaufen. Zeige ich denjenigen dann die kleine Moss-Maus, sind sie allesamt total geflasht. „Ich dachte immer, VR braucht ganz viel Platz und meistens wird einem davon schlecht.“ VR-Mythen, die die Branche nicht nachhaltig genug mit geilen Gegenbeispielen bekämpft.

Es ist diese Art Spiel, die VR braucht. Pillars of Eternity oder gleich das ehrwürdige Baldur’s Gate, vielleicht sogar mit Handtracking. Dragon Age, als es noch großartig war. Und was ist mit dem fantastischen Witcher 3?

Ninja Theory hat‘s vorgemacht

Dass es geht, haben Ninja Theory mit Hellblade: Senua’s Sacrifice bewiesen. Die Schulterperspektive funktioniert ebenso gut, wie die Table-Top-Ansicht grandios ist. Ich fand es überwältigend, die Heldin in echtem 3D als Miniatur vor mir kämpfen zu sehen, mit feinsten Animationen und Effekten.

Statt weitere Genres in VR umzusetzen und damit viele neue Nutzer in die virtuelle Realität zu locken, fließen Werbebudgets und PR-Aktionen gezielt an nahezu jeder Zielgruppe vorbei und ersticken im Treibsand ineffektiver Botschaften. VR braucht kein Metaverse. VR braucht kein Social VR. Nicht nur Action-Horror-Super-Shooter. VR braucht immer noch eine langfristig motivierende Basis und das muss die Software, das müssen die Spiele liefern.

VR 2019? Beat Saber. Beat Saber. Beat Saber. Beat Saber ...

Das Überraschungsspiel Beat Saber (Test) beherrscht nach wie vor die VR-Branche. Der Job Simulator, erschienen im April 2016, ist weiter unter den beliebtesten VR-Spielen. Ebenso Superhot, Arizona Sunshine (Test), Raw Data, I Expect You To Die. Nach über drei Jahren tummeln sich die immer gleichen Namen in den Bestenlisten.

Natürlich habe ich all die Titel herausgegriffen, die möglichst dramatisch meinen Punkt untermauern. Ich will nicht unterschlagen, dass sich No Man’s Sky VR unter den beliebtesten PSVR-Spielen 2019 befindet. Oder L.A. Noire: The VR Case Files (Test).

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Aber das ist alles viel zu wenig. Es ändert nichts daran, dass uns Spielemarken mit Anziehungskraft in VR fehlen, die mit geringster Zugangsschwelle, aber gleichzeitig höchster Spielermotivation daherkommen. Rundenstrategiespiele der Marke Civilization. Aufbauspiele wie Siedler. Wo ist Company of Heroes in VR? Wie wäre es mit Diablo 4 für die PSVR 2? Ein Mass Effect-Spinoff gefällig?  Wo sind Rollenspiele wie Divinity: Original Sin oder Pathfinder: Kingmaker? Hinsetzen, VR-Brille aufsetzen, Controller in die Hand, zocken, staunen.

Immerhin: Half-Life: Alyx wird sich auch im Sitzen spielen lassen. Zwar wieder mit Horror-Momenten und viel Action, Geballer und Effekten. Aber hoffentlich auch mit einer guten Geschichte.

Der Mangel an guten VR-Geschichten ist erschreckend

Es muss auch endlich auch mal echte Story in ein VR-Spiel. VR kann Emotionen so nahebringen, wie kein anderes Medium. Was bekommen wir? Standard-Shooter und Zappelspiele. Überhyptes Hardcore-Zeug wie Boneworks (Test), das mit klasse experimentellen Mechaniken und vollkommen ignorant gegenüber jeder Motion-Sickness-Problematik die Man-Cave-VRler in fanatischen Freudentaumel versetzt.

Das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen, ist Unsinn. Raumfüllendes oder auch nur stehendes VR in First-Person-Sicht bringt zur an sich schon extremen Hardware-Hürde noch Platzprobleme, Konfigurations-Hickhack und nicht zuletzt simple Bequemlichkeitshürden mit. Dazu kommt Schreckhaftigkeit: Ich hasse Horror in VR, weil es so existentiell bedrohend wirkt. Das spricht definitiv für die Immersion und ist auch ganz sicher irgendwie geil. Aber ich will mich auch mal entspannen und nicht ständig auf sehr reale Weise mit meiner Sterblichkeit konfrontiert werden.

Es fehlt Virtual Reality an einer gewissen Leichtigkeit, einem Sog von packenden Geschichten und langfristig motivierenden Mechaniken. Dass ich einem Zombie Aug‘ in Augenhöhle den Schädel verbleien kann, haut doch keinen mehr um.

VR muss wieder mehr im Sitzen, ohne intensive Bewegung oder wilde Schockmomente ausgekostet werden können. Keine wilden Fuchteleien, auch kein Drehstuhl-VR, keine irren Experimente. Da muss es kein First-Person sein. Warum denn nicht mehr Table Top wagen? Wie gut das geht, zeigen doch Moss und Astro Bot. Ein neues Fallout der Marke New Vegas im Table-Top-Stil von Obsidian? Ich käme selbst unter dem unbequemsten VR-Headset kaum noch hervor.

Wie Hype einer Zukunftsvision schaden kann

Warum werden keine großen Titel ähnlich wie Hellblade für VR umgesetzt? Warum glauben so wenige Entscheider bei den großen Studios an VR? Nicht bloß, weil sie VR nicht verstehen. Nicht bloß, weil die Hardware nicht den Formfaktor von Sonnenbrillen hat. Sondern weil VR nie als einfach präsentiert und verkauft wird. Weder den Leuten in den Chefetagen noch dem Kunden.

Weil es immer gleich Ready Player One sein muss. Weil nicht klein angefangen wird, sondern Zwischenschritte einfach übersprungen werden. Schon während des 2016er VR-Goldrauschs hieß es ständig: Das Holodeck ist in greifbarer Nähe. Star Trek wird bald Wirklichkeit. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?

Das war und ist Bullshit. VR ist trotz des massiven Potenzials noch nicht im Markt angekommen. Außer Facebook hat bisher kein anderer großer, finanzkräftiger Konzern ein langfristiges Bekenntnis zu VR abgegeben. Vielleicht wird VR in den nächsten Jahren bloß als Brückentechnologie für Augmented Reality vermarktet? Und wer weiß denn, ob nach einem Achtungserfolg von Half Life: Alyx außerhalb der VR-Blase die Index nicht im Privatmuseum von Valve-Chef Gabe Newell verschwindet?

Leicht & überzeugend – oder ewiges VR-Wachkoma

Das Holodeck kommt nicht, indem man es mit Macht zu erzwingen sucht. Wir brauchen mitreißende, einfache, motivierende, bekannte, entspannende und vor allem viel mehr VR-Spiele, die viel kräftiger beworben werden. Auf die Couch fläzen, Headset aufsetzen, Controller in die Hand, zocken, staunen, freuen.

Die Oculus Quest (Test) ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, vor allem mit Oculus Link (Infos) ergibt sich jene Freiheit, die ich brauche, wenn ich abends noch mal eine VR-Brille aufsetzen soll. Und natürlich ist ein Beat Saber an Simplizität und Zugänglichkeit kaum zu übertreffen. Diese neue Form des Entertainments, die den ganzen Körper mit einbezieht, ist fantastisch und sollte unbedingt weiter vorangetrieben werden.

Aber der Standard-Gamer, der keine täglichen Sidesteps oder Hüpfeinlagen sucht, muss überzeugt werden, dass sein geliebtes Rollenspiel in VR erheblich an Nähe, Substanz und Interaktivität gewinnt, selbst wenn es sich vom Grundprinzip nicht extrem verändert. Jedes Mal, wenn man eine VR-Brille aufsetzt, muss es einen umhauen: Das Eintauchen in eine Welt, die so voller lebendiger Details ist, wie es am platten Monitor gar nicht darstellbar ist. Das kann und wird die Leute unter der VR-Brille halten, auch wenn die nach einer Weile drückt. Davon bin ich überzeugt.

Um das zu erreichen, müssen deutlich mehr Spiele, mehr Genres umgesetzt werden und sie dürfen nicht nach ein, zwei Stunden vorbei sein. Sonst wird VR auf Jahre hinweg die müde belächelte Tech-Demo-Experience für VR-Nerds bleiben. Auch Beat Saber wird sich so schnell nicht wiederholen lassen. Und damit wäre das offensichtliche Potential von Virtual Reality, die (Gaming-)Welt zu verändern, erstmal gestorben.

So wie die VR-Version von Hellblade 2.

Danke, Microsoft.