Cities XR: Eine japanische Vision der Transformation des öffentlichen Raums

Cities XR: Eine japanische Vision der Transformation des öffentlichen Raums

XR-Studio Psychic VR Lab aus Japan hat eine klare Vision vom Zeitalter der Augmented Reality. Wie soll dieses Metaverse aussehen? Ich habe mir eine frühe Demo in Tokio aus der Nähe angesehen. 

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Digitales im öffentlichen Raum – das sehen wir in Deutschland und generell in westlichen Ländern eher selten. Oft fallen digitale Anzeigen in Bussen und Bahnen durch Ausfall auf oder auch gar nicht, weil einfach nichts Interessantes darauf zu sehen ist. Das höchste der Gefühle sind gelegentlich ein paar verirrte Werbe-Bildschirme mit News-Schnipseln in Bahnhöfen.

So etwas wie den New Yorker Times Square können sich Deutsche hierzulande nicht vorstellen. Gigantische Werbedisplays an Kreuzungen, die sogar mit Richtungssound die wartenden Fußgänger:innen beschallen? Regelrechte Aufstände wären vorprogrammiert.

Japan: Hold my beer!

Diese Diskussion wird in der XR-Nische lebhaft weitergeführt. Kurz nach der Einführung von Werbebanden im VR-Multiplayer-Shooter Blaston gingen VR-Fans auf die Barrikaden, inklusive des bei der Generation Social Media beliebten Review-Bombings. Meta und Resolution Games machten einen Rückzieher. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben: Meta sieht im AR-Markt gigantisches Werbepotenzial.

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Wer kann es dem Unternehmen verdenken? Die massiven Kosten für die Weiterentwicklung immersiver Hardware und Technologien werden noch auf geraume Zeit wachsende negative Bilanzen für die Reality Labs-Abteilung generieren. Gleichzeitig wollen Nutzende immer günstigere VR-Brillen und Software, ungeachtet besserer und teurerer Technik oder Qualität.

Augmented Reality: Physikalische Hürden bremsen die Metaverse-Zukunft

Doch Werbung ist nicht der Teil der AR-Medaille, der vielleicht eines Tages die Verbreitung der Technologie vorantreibt. Das müssen nützliche Anwendungen leisten, die intuitiv genug sind, um das Smartphone zumindest teilweise abzulösen und so hilfreich, dass sich auch Menschen ohne Sehschwäche AR-Brillen auf die Nase setzen. Ideen und Visionen dazu gibt es, angefangen von Navigation bis zu allerlei Arten Information, etwa über Öffnungszeiten oder Fahrpläne und vieles mehr.

Die Entwicklung der dafür nötigen Hardware stellt Hersteller auf der ganzen Welt vor bis heute ungelöste Herausforderungen. Vor allem physikalische Grenzen verhindern bis jetzt den Bau von AR-Brillen, die einen alltagstauglichen Formfaktor haben, ausreichend lange Batterielaufzeit mitbringen, ein großes Sichtfeld für die digitalen Displays und genügend Rechenpower haben, damit 3D-Anwendungen in Echtzeit darauf laufen.

Frau arbeitet mit Vision Pro vor virtuellen Monitoren.

Produktivität via AR ist eines der erklärten Ziele der Apple Vision Pro. | Bild: Apple

Apples erklärtes Ziel war genau das, schließlich steht der Weltkonzern aus Cupertino nicht auf Virtual Reality. Doch auch Apple musste sich bisher der Physik geschlagen geben: Am Ende kam mit der Apple Vision Pro eine VR-Brille heraus, die auf Kamera-Passthrough setzt, um die Vision produktiver AR-Anwendung im Alltag möglich zu machen.

Auch Meta arbeitet fieberhaft an der ersten AR-Brille – Berichten zufolge soll eine erste Version 2024 für Demos gezeigt werden. Die technisch aus Kostengründen abgespeckte Version für Konsument:innen ist erst für 2027 geplant. Allein das zeigt, was für ein gigantisches Unterfangen die Entwicklung einer solchen neuen Computing-Plattform ist.

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AR-Inhalte als Vehikel für Zukunfts-Visionen

Bei den Inhalten sieht es einfacher aus. Augmented Reality gibt es mittlerweile in verschiedenen Shops, die Google-Suche bietet AR und bekannte Studios wie Niantic versuchen sich seit vielen Jahren an AR, mit durchwachsenem Erfolg.

Psychic VR Lab ist ein Studio aus Japan, das ebenfalls seit einigen Jahren mit VR und AR experimentiert und mit Styly eine Plattform für benutzergenerierte XR-Inhalte bietet. Diese Inhalte können über die Smartphone-App überall angesehen werden. Das Studio gibt an, dass rund 80.000 Künstler mittlerweile mehr als 100.000 XR-Szenen gebaut haben. Über fünf Millionen Mal wurde die Styly-App heruntergeladen.

Das sind keine schlechten Zahlen, bedenkt man, dass sich AR in der Regel nur durch das kleine Smartphone-Fenster betrachten lässt und vor allem in westlichen Landstrichen auf wenig Interesse trifft.

Doch die Macher:innen denken über eine halb-immersive Asset-Bibliothek für Smartphones hinaus. Ihr Ziel ist die Transformation des öffentlichen Raums und die Überlagerung realer Umgebungen mit digitalen Ebenen. Ein echtes Metaverse reichert physische Umgebungen mit digitalen Erfahrungen und Informationen an, so die Vision des 2016 gegründeten Studios.

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Ein recht eindrucksvolles Beispiel, wie künftig etwa Sportevents von AR-Technologie profitieren können, zeigte Psychic VR Lab kürzlich mit Air Race X. Das „Formel 1 der Luft“, 2019 noch von Red Bull eingestellt, wurde mit einem neuen Konzept und AR wiederbelebt.

Die digitale Transformation des öffentlichen Raums: Always On

Nach der eher enttäuschenden Entwicklung des VR-zentrierten Metaverse-Themas der letzten Jahre sieht Psychic VR Lab also wenig überraschend das Zeitalter der Augmented Reality kommen: Ab 2025 werde es ein klares, fortschreitendes Wachstum der Technologie und ihrer Anwendung geben. Ab 2030 prognostiziert das Team rund um Gründer Masahiro Yamaguchi sogar eine Transformation im Lebensstil der Menschen: Digitale Benutzeroberflächen seien dann „Always On“ und würden in Echtzeit aktualisiert, digitale Interaktionen mit der „Smart City“ zum Lebensstandard gehören.

Klingt nach Sci-Fi? Um zu beweisen, dass es in diese Richtung geht, arbeitet Psychic VR Labs an Projekten, die digitale Inhalte an realen Orten verankern und dort entweder rund um Events wie das bereits angesprochene Air Race X oder jederzeit abgerufen werden können. An der berühmten Shibuya-Kreuzung zeigt mir das Team an einem verregneten Sonntagmorgen im Oktober 2023, wie das aussieht.

Über die Styly-App schaue ich mir dort ein digitales Konzert im Animé-Stil direkt auf der Kreuzung an, die Umgebung wird künstlerisch eingebunden.

Etwas Vergleichbares habe ich schon gesehen: Die Band Gorillaz gab am 18. Dezember 2022 auf dem Piccadilly Circus in London ein AR-Konzert, das über die Geospatial API von Google auf den Ort abgestimmt war. Etwas früher fand die Vorstellung ihrer damals neuen Single „Skinny Apes“ in AR auf dem New Yorker Times Square statt.

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So etwas wäre in Psychics Vision eines künftigen Metaverse etwa die Musikebene, die ich auswähle, um entsprechende digitalen Musikinhalte lokal zu erleben.

Cities XR: Die komische Digital-Palme auf dem Hochhaus bei Shibuya Crossing

Die Ebenen eines AR-zentrischen Metaverse können in Psychics Vision etwa Gaming, Social oder Arts beinhalten. Letzteres demonstriert das Studio ebenfalls direkt an der Shibuya-Kreuzung. Zwei Tage früher hatte ich an einem Workshop des Studios teilgenommen und mithilfe des Styly-Editors eine digitale Palme auf einem der Hochhäuser von Shibuya Crossing aufgestellt.

Die Geodaten der Stadt inklusive aller Gebäude sind in Japan öffentlich zugänglich, weshalb Styly auf den digitalen Zwilling zugreifen und damit arbeiten kann.

Blick durchs Smartphone auf ein Block-Modell von Shibuya mit AR-Flugzeugen vor einem Wolkenkratzer

Ich konnte ein AR-Demo-Rennen über die Styly-App auf dem Smartphone auf einem Tabletop-Modell von Shibuya beobachten. | Bild: Styly

Und tatsächlich: Ich kann meine pulsierende Palme, von der animiertes Laub regnet, vor Ort auf dem realen Gebäude durch das Tablet- bzw. Smartphone-Display sehen. Okay, es ragt durch die riesige Werbebande auf dem Dach hindurch. Aber es ist trotzdem cool, dass sich jeder Mensch an dieser Stelle über meine Palmen-Kreation wundern kann – und nur hier. Falls ihr mal Shibuya Crossing besucht, ladet euch die Styly-App herunter, startet „A MIXED Palmtree“ und schaut mal, ob ihr das komische Ding finden könnt.

Nun bin ich nicht so der Kunsttyp, wie meine Kreation eindrucksvoll beweist. Mich interessieren vielmehr informative Dinge, etwa eine offizielle AR-Ebene, die mit Informationen über Verwaltung, Sehenswürdigkeiten und Wegweisern schnelle Orientierung erlaubt. Oder eine Ebene, in der Geschäfte und Restaurants ihre Öffnungszeiten und Auslastung angeben. Ist in der Sushi-Bar da vorne rechts noch genug Platz für meine Freund:innen und mich? Führt der Technikladen da vorne links Kamerazubehör?

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Vom (Un-)Willen zur digitalen Transformation

Das ließe sich unendlich weit spinnen und eröffnet zumindest in der Theorie eine Vereinfachung des Alltags. Die sinnvolle Umsetzung würde uns Lebenszeit sparen, die wir sonst mit der Suche auf dem Smartphone zubringen. Vorausgesetzt natürlich, diese Effizienz wird durch das digitale Angebot der einzelnen Betreiber:innen überhaupt möglich.

Während in Japan solche Zukunftsvisionen offenbar ausgemachte Sache und nur eine Frage der Zeit sind, sehe ich diese Dinge bei uns erst viel, viel später ankommen. Wir hinken der Digitalisierung in Verwaltung, Bildung und im öffentlichen Raum vielfach Jahre, teilweise Jahrzehnte (Fax, anyone?) hinterher und zumindest meiner Erfahrung nach, setzt sich der überwiegende Teil der Menschen hier kaum mit (Zukunfts-)Technologie auseinander.

Menschen mit Pico-4-Brillen vor einem Fenster in Shibuya, Tokio

Volles Cyberpunk: VIP-Gäste schauen Air Race X mit Pico-4-Brillen am Fenster im 15. Stock von Shibuya QWS. | Bild: MIXED

Stattdessen erlebe ich oft eine tief sitzende Gleichgültigkeit oder sogar Technologiefeindlichkeit: Es funktioniert doch auch so, wieso sollte ich das anders machen? Aber auch technikaffine Menschen fallen dadurch auf, dass sie zuerst fragen, wie eine neue Technologie missbraucht werden kann und dann ausgiebig erörtern, weshalb sie keine Zukunft hat.

Das ist ein Unterschied in der Kultur. Auch wenn der Lebensstil in Japan sich deutlich von unserem unterscheidet und dort (aus unserer Sicht) Reizüberflutung an der Tagesordnung ist, fragen die Japaner:innen nicht: Was ist der Nachteil einer Technologie? Die Frage lautet eher: Wie kann uns diese Technologie helfen? Oder macht sie vielleicht einfach nur Spaß?

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So stellt sich Psychic VR Lab eine mögliche Version des Metaverse vor. | Bild: Psychic VR Lab

Trotzdem müssen natürlich auch Probleme und Risiken bedacht werden. Eine völlig von digitalen Inhalten überfüllte AR-Ebene wünscht sich selbst der/die hartgesottenste Japaner:in nicht. Hier benötigt es Filterfunktionen und Optionen zur Ausblendung von Inhalten. Psychic VR Lab sieht den ersten Schritt etwa in den genannten Ebenen, die man wie bei einem TV durchschaltet.

Das ermöglicht übrigens auch kulturell ganz neue Optionen, etwa Overlays für historische Stile, Stadtviertel im Look von Subkulturen, etwa Gothic oder (Cyber)Punk.

Entscheidend ist, wie sich die Hardware entwickelt

Alles steht und fällt mit der Hardware. Während ich bereits heute mit der Quest 3 hinausgehen und digitale Inhalte in der realen Welt erleben kann, sind solche VR-Brillen wenig geeignet für tägliche Nutzung im öffentlichen Raum, zumal sinnvolle Inhalte dafür bei uns flächendeckend fehlen.

Ich selbst kann dem Blick durch das kleine Smartphone-Fenster überhaupt nichts abgewinnen, auch wenn es derzeit für die beste AR-Qualität sorgt. Bevor also nicht AR-Brillen eine deutlich barrierefreiere Verschmelzung digitaler Elemente mit der Realität erlauben, wird sich die Idee vom Metaverse nirgendwo durchsetzen.

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Gleichwohl finde ich die Arbeit daran und an den zugrunde liegenden Konzepten spannend. Wie schon mehrfach erwähnt: Die Möglichkeiten, unser Leben sinnvoll zu bereichern und den Alltag, hauptsächlich Routine-Aufgaben und Informationsbeschaffung, effizienter zu gestalten, sind vielversprechend.

Bleibt die Frage, wann die Hardware so weit ist, dass Metaverse-Visionen wie die von Psychic VR Lab und ihre Vorstellung von Cities XR richtig zum Leben erwachen.

Hinweis zur Transparenz: Psychic VR Lab hat MIXED zu einer dreitägigen Media Tour eingeladen und die Kosten für Anreise, Unterkunft und Verpflegung übernommen.