XR-Forscher warnen vor zu realistischer VR und AR

XR-Forscher warnen vor zu realistischer VR und AR

Wie wirkt sich immer realistischere VR und AR auf Menschen aus? Eine Gruppe Forscher und Praktiker mahnt, dass sich die Wissenschaft dem Thema annehmen muss, bevor die Technologie alltäglich wird.

Im Fachjournal "Frontiers in Virtual Reality" veröffentlichen Forscher und Praktiker unter anderem von Facebook, Magic Leap, der BCC und dem Entwicklerstudio Hammerhead VR einen Aufsatz zur Ethik realistischer VR und AR. Hammerhead VR (heute: Dimension) entwickelte mit der Robo-Foltersimulation Abe VR (Video siehe unten) selbst eine, ethisch betrachtet, kritische VR-Erfahrung.

Die Autoren warnen vor schlecht erforschten Risiken der neuen Technologien, sollten diese vermehrt im privaten Alltag ankommen und visuell zunehmend realistischer wirken.

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"Wie jede Technologie kann VR für das Gute oder das Schlechte eingesetzt werden", sagt der Psychologe Mel Slater, der seit den früheren 90er Jahren mit VR in der Psychotherapie experimentiert. Um die Risiken besser einschätzen zu können, müsse mehr geforscht werden.

Slater entwarf den Aufsatz in der ersten Fassung. Er warnte schon vor rund zwei Jahren, dass VR für jedermann nicht ausreichend erforscht sei. "Es gab bislang niemanden, der viele Stunden und über Wochen und Monate hinweg in Virtual Reality verbracht hat. Niemand weiß, was passieren wird", sagte Slater.

Die von ihm befürchtete Kampagne gegen VR, wie sie früher gegen TV oder Comics geführt wurde, blieb zwar bislang aus. Allerdings verkauften sich VR-Brillen deutlich schlechter als damals antizipiert.

Welche Rechte haben digitale Menschen?

Der Ethik-Aufsatz wirft unter anderem die Frage auf, wie mit realistischen virtuellen Charakteren umzugehen sei. Ein Thema, das neben der Games- auch die Erotik-Branche beschäftigt, wenn Darsteller*innen realistisch digitalisiert und in VR als Spielzeug - oder auch nicht - angeboten werden. Ein Anbieter lässt zum Beispiel keine Gewalt gegenüber digitalisierten Darstellerinnen zu.

Natürlich spielt Gewalt im Kontext von VR-Spielen eine Rolle. "Mit besserer Grafik und immersiverer VR hat man so ein bisschen das Gefühl, wirklich vor Ort zu sein. Das führt zu der Frage: ‘Verletze ich jetzt noch einen weiteren, realistisch aussehenden Menschen?’ Darauf müssen wir unbedingt achten", sagt Vince Zampella vom Entwicklerstudio Respawn, der mit seinem Team den Weltkriegs-Shooter "Medal of Honor" für Facebook entwickelt.

"In VR ist man Teil des Szenarios, alles passiert um einen herum, die Charaktere erscheinen in Lebensgröße, sie schauen einem in die Augen. Das ist qualitativ eine andere Erfahrung im Vergleich zu Videospielen oder Filmen", bestätigt Slater.

Der Folterroboter Abe soll Menschen in VR gruseln. In der VR-Erfahrung liegt der VR-Brillenträger auf dem Folterstuhl. Wirkt sich das auf die Psyche aus - und wenn ja, wie? (Video: Hammerhead VR / Dimension)

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Der Unterschied zwischen Wissen und Fühlen

Es sei klar, so die Autoren, dass Menschen auf absehbare Zeit virtuelle Events und Inhalte nicht mit der Realität verwechseln würden.

Dennoch hätten Studien aus den vergangenen 25 Jahren gezeigt, dass Menschen realistisch auf virtuelle Umgebungen reagieren. Auch dann, wenn sie absolut sicher sind, dass der Inhalt nicht real ist.

Die VR-Verkörperung führe zu Veränderungen bei Empfindungen, Wahrnehmungen und dem Verhalten. Diese Möglichkeit sei bislang zum Wohle der Menschen eingesetzt worden, könne aber ebenso Schaden anrichten.

Die Autoren skizzieren in ihrem Papier die aus ihrer Sicht ungeklärten potenzielle XR-Risikofaktoren.

  • Wer zu lange in VR ist, könnte Probleme bei der Rückkehr in die Realität haben, insbesondere wenn sich die VR-Nutzung der Frequenz der Smartphone-Nutzung annähere.
  • Eine intensive Nutzung könne dazu führen, dass die VR-Welt und digitale Interaktion der Realität vorgezogen werden. Der physische Körper könne vernachlässigt werden.
  • Es müsse legal und ethisch klar sein, wer für die Handlungen eines virtuellen Körpers oder eines Remote-Roboters verantwortlich ist, wenn die Figur anderen Schaden zufügt. Gerade dann, wenn der Nutzer behaupten könne, das Interface trage eine Teilschuld.
  • XR ermögliche es, verstorbenen Personen erneut zu begegnen und mit ihnen zu interagieren. Es sei unklar, welche Auswirkungen das auf Hinterbliebene hat.
  • Die visuelle Wirkmacht von XR-Inhalten erhöhe ihre Überzeugungskraft. Diese könne Menschen zu illegalen oder unmoralischen Handlungen verführen, die sie normalerweise nicht ausführen würden. Die realistische Ausübung von virtueller Gewalt könne die Schwelle zur Bereitschaft für reale Gewalt herabsetzen.
  • Unerwarteter Horror könne posttraumatische Störungen hervorrufen oder, umgekehrt, für obszöne Szenen desensibilisieren.
  • Es könnten Personendaten erhoben und mit Unternehmen geteilt werden, darunter besonders kritische Daten wie Gesichtsscans. Diese Daten könnten gehackt oder anderweitig missbraucht werden.
  • Bei einer weit verbreiteten XR-Nutzung in persönlichen Räumen könne der gemeinschaftlich genutzt Raum verloren gehen, der eine wichtige gesellschaftliche Rolle einnehme. Die Folge könnte eine personalisierte, fragmentierte öffentliche Sphäre sein.
  • Ebenso könne XR die Grundwahrheit einer gemeinsamen Wahrnehmung gefährden, da die Technologie sensorische Erfahrungen von Menschen kontrollieren, manipulieren und neu organisieren könne. Eine funktionierende Gesellschaft basiere darauf, dass Sinneserfahrungen von Menschen ähnlich seien, beispielsweise bei einem Augenzeugenbericht vor Gericht.
  • Virtuelle Gewalt und Pornographie seien leicht verfügbar und fühlten sich realistischer an als in aktuellen Videospielen. Dies können "signifikante soziale Konsequenzen" haben.
  • Allgegenwärtige Werbung in AR, bei der uns virtuelle Menschen Produkte anbieten, sei kaum mehr zu ignorieren und höchst überzeugend. Menschen würden so möglicherweise dazu gezwungen, dafür zu bezahlen, keine Werbung mehr zu sehen.

Es sei wichtig, dass sich VR- und AR-Entwickler diese Risiken bewusst machten, so Slater. Entscheidungen müssten auf Basis wissenschaftlicher Forschung statt von Meinungen getroffen werden. Entsprechend müsse interdisziplinäre XR-Forschung gefördert werden.

Die Forschergruppe will ihre Ergebnisse bei einem eintägigen Workshop der XR-Industrie vorstellen und eine Arbeitsgruppe ins Leben rufen, die Unternehmen, Regierungen und andere Organisationen berät.

Quellen: Frontiers of Virtual Reality, Universität Barcelona; Titelbild: Hammerhead VR, Abe VR

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