Oculus Quest im Vorabtest: Die VR-Brille für jedermann?
Kabellose Raumbewegung und Zugänglichkeit schlagen Hochglanzgrafik: Oculus Quest lässt mich wieder an einen größeren Virtual-Reality-Erfolg außerhalb der Hardcore-Nische glauben.
Mit Quest bringt Oculus die erste VR-Brille auf den Markt, die ganz anders ist als alle zuvor: Sie bietet volle Bewegungsfreiheit für Kopf und Hände und einen vollgepackten App Store. Das allein macht die Brille allerdings noch nicht besonders.
Besonders ist, dass Oculus diese beide grundlegenden Features in ein komplett autarkes Gerät gepackt hat – einschalten, aufsetzen, fertig. Und all das für einen bezahlbaren Preis: 450 Euro kostet die Version mit 64 Gigabyte Speicher.
Built by Oculus (sorry, Lenovo)
Schon der Ersteindruck ist gut: Die Brille hat die gewisse Premium-Ausstrahlung, die man sich von einem hochwertigen Produkt erhofft.
Die Verarbeitung ist sauber, die Kopfhalterung bequem, die integrierten Lautsprecher (wie bei Oculus Go und Rift S) sind praktisch. Ein Lüfter in der Vorderseite kühlt das Gerät und gleichzeitig das Gesicht. Das sorgt dafür, dass der Prozessor (Snapdragon 835) etwas schneller takten kann und die Linsen nicht (so schnell) beschlagen.
Zwar merkt man Oculus Quest an, dass deutlich mehr Hardware verbaut ist als in PC- oder Konsolen-Brillen, die hauptsächlich aus Linsen und Display bestehen. Das im Vergleich zu anderen Brillen eher hohe Gewicht ändert aber nichts am überzeugenden Gesamteindruck. Dieser gilt auch für die beiden Touch-Controller, die identisch sind zu jenen von Oculus Rift S.
Wer in lauten Umgebungen oder für maximale Immersion optimalen VR-Ton möchte, wird Kopfhörer anschließen wollen – das ist via Klinke möglich, was allerdings ein wenig fummelig ist. Komfortabler sind die integrierten Lautsprecher.
Quest vs. Rift S: OLED schlägt LCD
Kurz vor meinem Quest-Test hatte ich noch Rift S auf dem Kopf, entsprechend konnte ich einen unmittelbaren Vergleich anstellen zwischen den Doppel-OLED-Screens in Quest und dem einzelnen LC-Display in Rift S.
Die Linsen sind in beiden VR-Brillen identisch, allerdings kann nur bei Quest der Linsenabstand auf den eigenen Augenabstand justiert werden für einen optimalen 3D-Effekt und maximale Sehschärfe.
Mein favorisierter Screen steckt eindeutig in Oculus Quest: Das Bild wirkt insgesamt schärfer und die Farben OLED-typisch kräftig mit gutem Kontrast. Durch die starke Bildvergrößerung der Linsen kann man allerdings trotz der guten Auflösung (1.600 mal 1.440 Pixel pro Auge) noch immer schwarze Lücken zwischen einzelnen Pixeln erkennen („Fliegengittereffekt“). Das Sichtfeld ist Oculus-typisch schmal wie bei einer Taucherbrille und die Bildwiederholrate mit 72 Hz recht niedrig, was mir beim Test aber nicht negativ auffiel.
Genug mit technischen Details: Bei Oculus Quest geht’s nicht um Pixel, Grad und Chip-Performance. Es geht um den Spaß.
Aufsetzen. Läuft.
Ähnlich wie die Original-Rift zieht man Quest wie eine Baseball-Kappe aufs Haupt: Ein Näherungssenor erkennt, sobald die Brille auf dem Kopf sitzt, dann springt sie automatisch an. Anschließend wird die App ausgewählt – und schon ist man in VR. Boris Becker sagte in einem 90er-Jahre-Werbefilm den dazu passenden Satz.
Die Kopfhalterung ist nicht ganz so bequem wie bei Oculus Rift S: Die Quest-Brille wird eher gegen die Augen gedrückt als davorgehalten. Allerdings ist Quest ohnehin eher für kurze VR-Sitzungen ausgelegt. Eine halbe Stunde oder Stunde am Stück kann man die VR-Brille sicher gut tragen, bevor sie zu drücken beginnt.
Wer Oculus Go kennt, weiß, wie angenehm es ist, so schnell in VR drin und wieder draußen zu sein. Das gilt auch für Quest: Nur sind mit Quest die VR-Erfahrungen dank voller Bewegungsfreiheit für Kopf und Hände auf einem ganz anderen, viel höheren Niveau, durchaus auf Augenhöhe mit PC und Konsole. Das macht Quest so genial.
Fantastisches Tracking
Gar nicht genug loben kann man das von Oculus entwickelte Trackingsystem „Insight“: Raum- und Handbewegungen werden jederzeit flüssig und stabil erfasst, es zittert und verzögert nichts.
Zu Aussetzern bei der Controller-Erfassung kommt es mitunter nahe oder hinter dem Körper. Lässt man die Arme zum Beispiel seitlich nach unten hängen und schaut geradeaus, verschwinden die Controller nach einem kurzen Moment aus dem Bild, weil sie nicht mehr im Blickfeld der Trackingkameras sind.
Solche Fehler muss man aber schon provozieren und ein wenig in die Ecken schielen, um sie überhaupt wahrzunehmen. Im normalen Sichtfeld sind die Controller immer sichtbar.
Oculus gibt Quest-Entwicklern außerdem Tipps, welche Handbewegungen die Brille gut erfasst und welche eher vermieden werden sollten. Da Apps für Quest durch eine strengere Qualitätskontrolle müssen als Rift-Software, ist davon auszugehen, dass die kleinen Schwachstellen beim Tracking im Normalbetrieb gar nicht mehr auffallen.
Bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: Das ist Kritik auf hohem Niveau. Das Tracking reicht in jedem Fall aus für eine gute VR-Erfahrung und schlägt Microsofts Kameratracking in den Windows-VR-Brillen. Das Trackingvolumen von Oculus Quest ist weit, aber eben nicht ganz so weit wie bei Rift S.
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Das ist laut Oculus übrigens der Grund, weshalb Quest nicht mit dem PC verbunden werden kann: Nicht alle VR-Apps für die Original-Rift sind zu hundert Prozent kompatibel mit dem Quest-Tracking.
Apps, Apps, Apps in der neuen VR-Freiheit
Am beeindruckendsten an Oculus Quest ist neben dem Tracking wohl die große Auswahl an Apps. Am Ende entscheiden die Inhalte, das weiß das Gaming-Team bei Oculus rund um den erfahrenen Spieleindustrieveteranen Jason Rubin (u.a. Crash Bandicoot, Uncharted). Mehr als 50 Apps sollen es werden zum und kurz nach dem Marktstart.
Trotz Mobiltechnologie gibt’s hier nicht den üblichen Smartphone-Kram: Grafisch sind die Spiele im Vergleich zu PC und Konsole schwach, klar. Ein in die Jahre gekommener Smartphone-Prozessor kann beim Pixelschleudern keinen leistungsfähigen Zuspieler ersetzen.
Aber inhaltlich und funktional – und das ist ausschlaggebend - müssen sich die Games und Anwendungen nicht verstecken vor ihren Pendants für PC und Konsole.
VR-Klassiker wie Superhot VR oder Robo Recall (siehe auch: Robo Recall Quest im Vorabtest) sind, von der Grafik abgesehen, exakte Kopien der jeweiligen PC-Version.
Und sie bieten meines Erachtens sogar das bessere VR-Erlebnis:
Zum einen hat Quest kein nerviges Kabel, das beim VR-Turnen in die Quere kommt. Die autarke VR-Brille macht einfach Lust darauf, sich intensiver und schneller im Raum zu bewegen. Das ist für mich ein größerer Faktor für VR-Immersion als tolle Grafik: Nichts macht einen virtuellen Raum so glaubhaft, wie auf den eigenen zwei Beinen hindurchzugehen. Ohne Kabel kann man sich in VR viel besser verlieren.
Zum anderen ist Quest wie gemacht für Zwischendurch-VR: Brille aufziehen, zehn Minuten Säbeltanzen oder Roboter zerhauen, Brille absetzen, fertig. Setzt man Quest später erneut auf, startet man nach kurzer Wartezeit da, wo man zuletzt aufgehört hat. Viel bequemer wird’s nicht.
Fazit: Highend-VR neu definiert
Oculus Quest kann vielleicht keine so schöne Grafik darstellen wie ein schneller Spiele-PC oder eine Konsole. Aber das macht aus der VR-Brille keine alte Technologie.
Im Gegenteil: Wenn man überlegt, dass ein hochaufgelöstes VR-Erlebnis in 3D bei 72 Hz mit voller Bewegungsfreiheit für Kopf und Hände, für die ein Videostream von vier Kameras permanent in Echtzeit ausgewertet wird, auf einem schmalen Smartphone-Prozessor läuft, bleibt nur eines: Anerkennung aussprechen für die Hard- und Software-Ingenieure bei Oculus, die dieses kleine Technikwunder vollbracht haben.
Für mich fühlt sich Oculus Quest daher mehr nach Highend-Erlebnis an als Rift S und andere PC-VR-Brillen. Selten habe ich mich in den letzten Jahren so sehr auf den Marktstart eines neuen Tech-Spielzeugs gefreut.
Auch Oculus‘ Herangehensweise an den Markt scheint sinnvoll: Die Positionierung als VR-Konsole mit hohem App-Qualitätsstandard könnte gut ankommen. Die Zielgruppe für das Gerät ist recht klar: Spielefans, die Lust haben, etwas Neues zu erleben, die aber keinen (schnellen) PC besitzen und Wert legen auf Mobilität. Quest ist außerdem das optimale VR-Zweitgerät für Enthusiasten, die unterwegs in die Virtual Reality einchecken wollen.
Ein bisschen günstiger könnte Quest sein für eine noch breitere Zielgruppenansprache. Das kann ja zum Weihnachtsgeschäft noch etwas werden. Aber selbst für 450 Euro dürfte das Gerät ein guter Deal sein, gut genug, um zahlreiche Käufer zu finden. Oculus Quest sollte den zuletzt ins Stocken geratenen VR-Markt etwas beleben können.
Hinweis: Facebook finanzierte die An- und Abreise zum Presse-Event in London.
Autoren: Christian Steiner, Matthias Bastian
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