Welt am Draht: VR und KI in Rainer Werner Fassbinders Sci-Fi-Klassiker

Welt am Draht: VR und KI in Rainer Werner Fassbinders Sci-Fi-Klassiker

Wir schreiben das Jahr 1973: Der Spielautomat Pong ist erschienen, den Personal Computer gibt es noch nicht, das Internet ist nicht mehr als ein Forschungsprojekt. In diesem Jahr schuf Rainer Werner Fassbinder den philosophischen Sci-Fi-Klassiker "Welt am Draht", der aufgrund seiner Themen wie Virtual Reality und Künstliche Intelligenz aktueller ist denn je.

Der Film handelt von Fred Stiller, der zum Direktor des staatlichen Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung (IKZ) ernannt wird, nachdem sein Vorgänger und Freund Henry Vollmer unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist.

Das IKZ besitzt einen Supercomputer namens Simulacron-1, der eine Kleinstadt mit über 9.000 sogenannten Identitätseinheiten simuliert. Diese hochentwickelten Sims denken und fühlen wie Menschen, wissen aber nicht, dass sie in einer Simulation leben.

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Eine Ausnahme bildet die Kontakteinheit "Einstein", die von Zeit zu Zeit mit den IKZ-Wissenschaftlern kommuniziert. Um mit Einstein zu sprechen, versetzen sich die Institutsmitarbeiter mit einem speziellen Helm in die Simulation und treffen die Kontakteinheit in der von Simulacron-1 generierten Virtual Reality.

Paranoia oder Wirklichkeit?

Als Stiller dem rätselhaften Tod des Institutsleiters Vollmer nachgeht, merkt er schon bald, dass etwas nicht stimmt: So verschwindet Vollmers enger Mitarbeiter spurlos von einem Augenblick auf den nächsten.

Noch seltsamer ist, dass sich niemand mehr an den Sicherheitschef des Instituts erinnert. Gerade so, als hätte er niemals existiert. Ist Stiller verrückt oder ist eine Verschwörung im Gange?

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Fred Stiller ahnt, dass etwas nicht stimmt. BILD: Studiocanal / WDR

Doch das ist nur das erste von vielen unerklärlichen Ereignissen, die Stiller mehr und mehr an seinem eigenen Verstand zweifeln lassen. Leidet der Computerwissenschaftler unter Verfolgungswahn? Oder versucht jemand weitaus Mächtigeres, eine ungeheure Wahrheit zu vertuschen: Ist die Welt, in der Stiller lebt, womöglich auch nur eine "Welt am Draht"?

Für die Nachwelt restauriert

Fassbinders Sci-Fi-Epos beruht auf dem 1964 erschienenen Roman "Simulacron-3" von Daniel F. Galouye, der ein Vierteljahrhundert nach Welt am Draht als The Thirteen Floor ein zweites Mal verfilmt wurde. Das war 1999, das Jahr, in dem auch der erste Teil der Matrix-Trilogie (Amazon-Link) erschien.

Welt am Draht wurde im Herbst 1973 als zweiteiliger Fernsehfilm von der ARD ausgestrahlt und war bis zum Erscheinen der restaurierten Fassung im Jahr 2010 nicht käuflich zu erwerben. Heute ist der Sci-Fi-Film auf Blu-ray in hervorragender Bild- und Tonqualität greifbar (Amazon-Link) und erscheint in seiner Vorwegnahme zukünftiger Technologien geradezu prophetisch.

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Was ist simuliert und was echt? Das ist in Welt am Draht die brennendste Frage. BILD: Studiocanal / WDR

Zeitlose Fragen

Welt am Draht ist eine Mischung aus Krimi und Thriller, der von seinen philosophischen Gedanken und der meisterhaften Inszenierung des Unwirklichen lebt. Wer eine rasant erzählte Geschichte oder Action erwartet, wird allerdings enttäuscht sein. Das liegt auch an der Länge des Fernsehzweiteilers, der sich mit dreieinhalb Stunden sehr viel Zeit nimmt für seine Geschichte.

Das Faszinierende am Film sind die von ihm aufgeworfenen zeitlosen Fragen, die vor dem Hintergrund aktueller technologischer Entwicklungen in einem neuen Licht erscheinen.

Das im Film vorgestellte Konzept einer computergenerierten Scheinrealität und die Frage, ob die sogenannte Wirklichkeit nicht selbst das Ergebnis einer Simulation ist, ist an sich nicht neu. Derartige Gedankenexperimente gab es schon früher in der Literatur und der Philosophie. Stiller selbst erwähnt in diesem Kontext Platons Höhlengleichnis.

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Angesichts der Datensammelwut und Allgegegenwärtigkeit großer Techkonzerne gewinnen diese Vorstellungen allerdings eine neue Kontur. Ob wir in einer Computersimulation leben oder nicht: Die von Google und Facebook vorangetriebene Algorithmisierung des Lebens ist längst in Gange. Die Angst Stillers, von einer unsichtbaren Macht kontrolliert und manipuliert zu werden, ist heute nachvollziehbarer denn je.

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Die Technologie wird für eigennützige Zwecke missbraucht. BILD: Studiocanal / WDR

Dass wirtschaftliche Interessen dabei stets eine Rolle spielen, ist eines der zentralen Themen des Films. Das staatliche betriebene IKZ hat Simulacron-1 aus Forschungszwecken gebaut, um die soziale und technische Entwicklung einer Gesellschaft durch eine Computersimulation nachzuvollziehen und daraus wichtige Prognosen für die Zukunft ableiten zu können. Der Film zeigt, wie ökonomische Kräfte sich der Technologie bemächtigen wollen, um sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern.

Eine schauderhaft verzerrte Welt

Neben der philosophischen Thematik beeindruckt das Produktionsdesign und die Inszenierung. Die Welt, in der Stiller lebt, wirkt steril, kalt, künstlich. Die Architektur ist von glatten, durchsichtigen und spiegelnden Oberflächen geprägt, die die roboterhaft kühlen, distanzierten Charaktere mannigfach optisch verfremden oder vervielfachen. Die in fast jeder Szene im Hintergrund spielende klassische Musik und die Synthesizerklänge verstärken den künstlichen Charakter dieser Welt bis zum Unerträglichen.

Keine Frage: Hier ist mehr Schein als Sein. Und dennoch merkt es keiner der Bewohner dieser Welt, weil sie innerhalb dieser Welt leben und nichts anderes kennen. So wie wir. Wüssten wir, wie es eine Wirklichkeitsebene höher zugeht und müssten dennoch hier verbleiben, würden wir wohl verrückt werden.

So wird im Film von einer Identitätseinheit berichtet, die ahnt, dass sie sich in einer Simulation befindet und einen Selbstmordversuch begeht. Weil sie die Stabilität der Simulation gefährdet, wird sie kurzerhand aus dem System gelöscht.

Die Kontakteinheit Einstein, die um den Simulationscharakter ihrer Welt weiß, erträgt die Wahrheit ebenso nicht. Sie versucht, sich des Körpers eines IKZ-Wissenschaftlers zu bemächtigen, der sich zwecks Kontaktherstellung in die Simulation eingeklinkt hat. Doch der Fluchtversuch misslingt.

Fazit: Eine faszinierende Tech-Dystopie

Wer sich Welt am Draht in voller Länge zu Gemüte führen will, braucht Kraft und Geduld. Denn erst gegen Ende nimmt der Film spürbar an Fahrt auf.

Gemessen an den heutigen Sehgewohnheiten wirkt der Film besonders exzentrisch, fremd, unheimlich. Er zermürbt den Zuschauer genauso wie Stiller durch seine unwirkliche Welt und Gesellschaft, seine in sich zusammenbrechende Realität.

Nach dem unerwarteten und überraschend hoffnungsvollen Ende fühlte ich mich, als wäre ich aus einem langen Albtraum erwacht. Und atmete auf. Welt am Draht ist anstrengend, aber die Reise lohnt sich. Denn er zeichnet vorausschauend ein Bild, das den Tech-Dystopien eines Black Mirror (Amazon-Link) in nichts nachsteht.

Welt am Draht wird euch gefallen, wenn ihr ...

  • Tech-Dystopien mögt,
  • anspruchsvolle und tiefsinnige Filme liebt,
  • deutsche Filmkunst erleben wollt
  • und euch für Virtual Reality und Künstliche Intelligenz interessiert.

Welt am Draht wird euch nicht gefallen, wenn ihr ...

  • einen durchweg rasant erzählten Sci-Fi-Thriller erwartet,
  • keine philosopische Ader habt,
  • selbst zuweilen an der Realität zweifelt und
  • Probleme habt mit der BRD-Mode der 70er.

Letzte Aktualisierung am 19.03.2024 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API / Preis inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten

Titelbild: Studiocanal / WDR

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