VR-Theater "Unser Leben in den Wäldern": Gute Technik, böse Technik
Das Staatstheater Augsburg verschickt wieder VR-Brillen mit einem neuen Theaterstück. Was geht im virtuellen Wald?
Theater hat die Aufgabe, sich ständig neu zu erfinden. Zumindest glauben das Theaterleute. Was den tatsächlichen Gang ins Theater oder die Oper angeht, bin ich persönlich vielleicht ein konservatives Fossil: Goethes Faust muss nicht neu interpretiert werden - es muss einfach der Vorlage nach gut gespielt und vorgetragen sein. Der Zauber von Aufführungen liegt meiner Meinung nach zum überwiegenden Teil im Quellenmaterial.
Gleichwohl kann neue Technologie für neue Möglichkeiten sorgen - etwa über Bildschirme, Hologramme, Lichteffekte und vieles mehr. Virtual Reality ist auch eine schöne Möglichkeit, Theater zu erweitern (etwa mit VR-Sequenzen direkt im Saal) oder indem ich mir ein Theaterstück nach Hause schicken lasse und es gemütlich auf der Couch oder dem Drehstuhl anschaue.
Das Staatstheater Augsburg arbeitet schon lange mit VR-Theaterstücken und hat einige wirklich beeindruckende Werke gebaut, etwa den interaktiven Krimi "Solo" oder das Maschinen-Ballet "kinesphere". Jetzt gibt es mit "Unser Leben in den Wäldern" ein neues Stück und ich habe es mir angesehen.
Inhalt
Worum geht es?
Im zugrundeliegenden Roman der französischen Autorin Marie Darrieussecq geht es um die Vorstellung, dass bestimmte Menschen weniger wert sein sollen, als andere. Die Dystopie spielt in einer Zukunft, in der Menschen geklont werden, um für das reichste Prozent der Gesellschaft als Ersatzteillager zu dienen. Für den Rest bleibt nur nachgezüchtete Billigware. Rebellen haben sich ihre Chips entfernt und leben in den Wäldern, um von dort aus gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu kämpfen.
Das VR-Theaterstück von André Bücker und Tina Lorenz greift die Monologform des Buches auf. Protagonistin und Rebellin Marie (gespielt von Katja Sieder) steht im Wald und erzählt ihre Geschichte vom Widerstand gegen eine hoch technologisierte Gesellschaft, die an den Folgen ihres Fortschrittsstrebens zugrunde geht.
Die Schauspieler:innen überzeugen mich – auch wenn mir persönlich die Art, in der die Geschichte erzählt wird, nicht zusagt. Es ist eben modernes Theater und das muss offenbar immer etwas "Meta" sein, postapokalyptisch-transzendental angehaucht, mit Stilblüten wie der zigfachen Intonation bedeutungsschwangerer Sätze, etwa: "Ich bin allein." Okay, nach dem zehnten Mal habe ich es auch verstanden.
Doch das ist eher eine Geschmacksfrage, auch wenn ich argumentieren würde, dass man so den Einzelheiten der Story nicht unbedingt leicht folgen kann. Immerhin kommt die Geschichte am Ende irgendwie rüber und das zählt.
Wie sieht es aus?
Das Staatstheater greift in die technische Trickkiste und hat für "Unser Leben in den Wäldern" eine digitale Bühne geschaffen und dann 360-Grad-Aufnahmen darübergelegt. Die digitale Kulisse ist recht schlicht gehalten - hier digitale Mosaiken und Gitter, die den realen Wald durchziehen, dort ein großer weißer, futuristischer Digital-Raum.
Die Protagonist:innen wechseln ständig die Position - ich empfehle wärmstens einen Drehstuhl. Leider gibt es keinen Spatial Sound: Ich kann die Position der Sprecher:innen nicht über Audio lokalisieren und so finde ich mich manchmal brummkreiselnd auf der Suche nach den Schauspieler:innen wieder. Dazu kommt ungünstigerweise häufiges Über- oder Untersteuern der Audioausgabe.
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Die Verschmelzung von digitaler Kulisse mit den 360-Grad-Aufnahmen im Wald oder am Ufer eines Sees sind teilweise gelungen, etwa wenn das digitale Gitter über den Boden huscht wie in einer Matrix oder die Schauspielerin aus dem Bild gelöscht wird. Das transportiert die Future-Vibes ganz gut und macht klar, dass wir nicht einfach bei einer eigenwilligen Neuinterpretation von Hänsel und Gretel sind.
Allerdings passen bei näherem Hinsehen oftmals die Details nicht. Mal ist Marie proportional zu klein, dann wieder scheint sie über der Umgebung zu schweben. Das platte 2D des Waldbodens wirkt hier seltsam deplatziert - allerdings muss man darauf nicht unbedingt so genau achten wie ich. Alte VR-Tester-Krankheit.
Während das Theaterstück auf der Ebene der Darstellung fortschrittlich die Möglichkeiten digitaler Assets erkundet und durchaus erfolgreich einsetzt, bleibt die Hardwaretechnik zurück und sorgt bei mir für heruntergezogene Mundwinkel. Die Pico G2 ist sehr beschränkt in ihrer Leistungsfähigkeit (in der VR-Brille werkelt nur ein Snapdragon 835) und dem muss durch die mangelnde Qualität der 360-Grad-Aufnahmen Rechnung getragen werden.
Das matschige Wald-Bild steht im harten Kontrast zu den digitalen 3D-Elementen. Es entsteht eine kognitive Dissonanz durch visuell widersprüchliche Eindrücke: Die von veralteter Hardware zurückgehaltene "reale" 2D-360-Grad-Landschaft kollidiert mit der vergleichsweise scharfen, räumlichen 3D-Technik und der vielleicht gewollte Kontrast fühlt sich zu keinem Zeitpunkt richtig an.
VR-Theater "Unser Leben in den Wäldern" Review-Fazit: Wenn die Hardware bremst
Kulissen aus dem Computer sind ein logischer nächster Schritt für das VR-Theater des Staatstheaters Augsburg und das funktioniert prinzipiell gut. "Unser Leben in den Wäldern" ist für Theater-Fans sicher ein spannendes Erlebnis.
Allerdings zeigt das neue VR-Experiment, dass die Technik anfängt, gegen sich selbst zu streiten. Die längst in die Jahre gekommene Pico G2 kann das 360-Grad-Bild der realen Umgebung einfach nicht knackscharf darstellen und das platte 2D-Bild wirkt im Kontrast zu den räumlichen 3D-Umgebungen und digitalen Anreicherungen irgendwie falsch. Man kann das natürlich auch als philosophisch-metaphysisches Stilmittel, als virtuellen Stolperstein betrachten, schließlich ist es Theater und eine individuelle Interpretierbarkeit gehört (offenbar) dazu. Muss man aber nicht.
Unsauberkeiten beim Sound und arbiträr wechselnde Positionen der Schauspieler:innen verhindern das vollständige Überspringen des Theater-Funkens endgültig - zumindest bei mir.
Ohne den Fokus auf technische Unzulänglichkeiten sehe ich "Unser Leben in den Wäldern" trotzdem als einen weiteren wichtigen Schritt bei der Erkundung immersiver Medien im künstlerischen Bereich. Vielleicht kann die kürzlich angekündigte Pico G3 die technische Handbremse künftig zumindest ein bisschen lösen.
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