Reportage: Ein Vierteljahrhundert XR aus dem Schwarzwald

Reportage: Ein Vierteljahrhundert XR aus dem Schwarzwald

VR, AR & KI kommen aus dem Silicon Valley? Überhaupt nicht, wie ein Besuch bei XR-Pionier Martin Zimmermann zeigt.

Es ist ein grauer Mittwochmorgen in St. Georgen im Schwarzwald. Das versteckte Städtchen mit etwa 13.000 Einwohner:innen entspricht nicht dem typisch touristischen Bild, das ich vom Schwarzwald habe. Eine rote, geschnitzte Bank auf dem Gehweg und ein uraltes Fachwerkhaus erinnern einsam an Schwarzwald-Folklore. Das liegt am industriellen Charakter der Kleinstadt, die auf eine lange Geschichte von Uhren- und Schallplattenherstellern zurückgeht.

Ich bin auf dem Weg in den ehemaligen Firmensitz von Dual, einst größter deutscher Hersteller von Plattenspielern mit über 3000 Mitarbeiter:innen. Kurz nach der Insolvenz von Dual wurde dort das St. Georgener Technologiezentrum (TZ) gegründet, nicht weit entfernt von der heutigen Hochschule Furtwangen und seinem Lehrstuhl für Informatik.

Das TZ fördert seit 1985 Existenzgründer in der Region. Es ist keine Überraschung, dass sich darin mit der imsimity GmbH ein Schwarzwälder Unternehmen findet, das Schulungs- und Trainingsanwendungen für Virtual und Mixed Reality entwickelt.

Der kreative Kopf dahinter ist Martin Zimmermann. Er arbeitet seit den 90er-Jahren mit Virtual Reality. Grund genug, ihm einen Besuch abzustatten und zu erfahren, wie in einem kleinen verschlafenen Industrienest mitten im Schwarzwald seit über 20 Jahren VR-Geschichte geschrieben wird.

Martin Zimmermann vor einem lächelnd im Portraitfoto vor einer Kunstcollage

XR-Pionier Martin Zimmermann steht für ein Vierteljahrhundert XR aus dem Schwarzwald. | Bild: Martin Zimmermann

Objektorientierte Software, grafische Benutzeroberflächen und ein Anzug

Martin Zimmermann wird 1966 in Tannheim im Schwarzwald geboren. Sein Vater ist Vorarbeiter im Straßenbau, seine Mutter Hausfrau. Er geht in Villingen auf eine weiterführende Schule und macht dann eine betriebswirtschaftliche Ausbildung. Mit immersiven Medien hat er zu diesem Zeitpunkt nichts am Hut.

Zimmermann startet im Wendejahr 1989 in St. Georgen als kaufmännischer Leiter in den IT-Sektor. „Das war so, wie man sich das im Silicon Valley vorstellt: Ein Start-up – auch wenn es diesen Begriff damals natürlich noch nicht gab – mit innovativer Technologie, vielen Ideen und jeden Abend Party.“

Einer der Gründer des damaligen Steinbeis-Transferzentrums für Informationstechnologien ist Prof. Dr. Michael Schönemann, Professor an der Hochschule Furtwangen, der objektorientierte Softwareentwicklung für die Zukunft hält. Dazu passende Themen, etwa grafische Benutzeroberflächen, nahmen gerade mächtig Fahrt auf. „Hier im TZ St. Georgen waren wir die Ersten in Deutschland, die einen C++ Compiler von AT&T hatten und haben damals schon objektorientierte Software entwickelt“, erzählt Zimmermann.

Schönemann will nicht nur die Forschung unterstützen, sondern auch Geld mit der Software verdienen. Aufbauend auf der entwickelten Basis-Software, sollten die wichtigsten Branchen in Deutschland adressiert werden. Er gründet dafür gemeinsam mit dem Versicherer Allianz 1990 ein IT-Unternehmen. Bei der Allianz ist damals das Vier-Augen-Prinzip Vorschrift, es müssen also zwei Geschäftsführer eingesetzt werden. „Ich war 23, noch richtig grün hinter den Ohren“, grinst Zimmermann. „Da meinte Schönemann eines Tages zu mir: Zieh mal einen Anzug an, wir fahren jetzt nach München. So wurde ich Geschäftsführer der Meta Finanz GmbH.“

Die neue Firma soll als innovative, verlängerte Werkbank der IT-Abteilung der Allianz dienen und verschiedene Prozesse im Versicherungswesen mit modernen Technologien, grafischen Benutzeroberflächen und Client-Server-Anwendungen unterstützen. „Zu Beginn waren wir fünf Leute, als ich nach zehn Jahren ausstieg, waren es 250.“

„Lieber auf dem Boden bleiben als im Privatjet herumdüsen“

1998 geht Zimmermann zu Plenum Systeme GmbH. Das Unternehmen, will sich am sogenannten „Neuen Markt“ etablieren, jenem Börsensegment, das sich unter anderem mit Informations- und Kommunikationstechnologie beschäftigt. „Dort war ich Mitgesellschafter und habe den Börsengang der Plenum AG mit begleitet.“

Doch das ist nicht Zimmermanns Welt. Er verlässt die Firma nach dem Börsengang wieder – zum völligen Unverständnis der Kolleg:innen. „Wie kannst du jetzt aussteigen?“ Schließlich gibt es eine Haltefrist für die Anteile.

Doch Zimmermann ist das Umfeld fremd geworden. Er will auf dem Boden bleiben, anstatt im Privatflugzeug durch die Welt zu jetten. „Ich habe mein eingesetztes Kapital noch mit sechs Prozent verzinst bekommen“, sagt er, „viele andere haben hingegen ihr Geld verloren.“

Schadenfreude liegt ihm fern. „Mir war wichtig, mir selbst treu zu bleiben. Die Versuchung war zwar riesig, denn es fühlte sich schon toll an, auf dem Papier Millionär zu sein. Aber vielleicht war es einfach nicht mein Ding, ein börsennotiertes Unternehmen zu lenken. Ich möchte lieber experimentieren und neue Dinge ausprobieren.“

„Das hat mich umgehauen!“

Sein nächster Schritt führt ins Internet. Mit einem befreundeten Bauunternehmer gründet er eines der ersten deutschen Bauportale im Internet, bauszene.de. „Wir wollten die Digitalisierung in klassische industrielle Bereiche bringen“, erzählt er.

Zu dieser Zeit, kurz vor der Jahrtausendwende, kommt Zimmermann erstmals mit Virtual Reality in Berührung. Er besucht den CAVE im Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), einen Kubus, in dem mithilfe von Rückprojektionen eine immersive Virtual-Reality-Umgebung erzeugt wird. Unter anderem werden dort physikalische Eigenschaften in der Produktentwicklung stereoskopisch visualisiert, etwa für Strömungssimulation, Aerodynamik-Optimierung oder Crash-Simulationen.

Eine Person mit einer 3D-Brille steht im CAVE des HLR Stuttgart und sieht sich Strömungssimulationen an

In sogenannten CAVEs können etwa Strömungsdaten in 3D visualisiert werden. | Bild: Martin Zimmermann

„Zum ersten Mal diese virtuelle Welt zu erleben – das hat mich umgehauen.“ Er nimmt das Angebot, bei einem Spin-Off der Universität Stuttgart als Partner einzusteigen, an. „Die Aufgabe war, aus einer Universität-Software eine marktfähige kommerzielle Software zu machen.“

Das neu gegründete Unternehmen VirCinity GmbH, hat mehrere Vorteile: Um das Jahr 2000 gibt es weltweit kaum VR-Firmen. Außerdem ergeben sich durch die Beziehungen des HLRS zur Industrie hochklassige Kontakte: Porsche, Daimler und andere große Unternehmen lassen ihre numerischen Simulationen auf den Großrechnern in Stuttgart laufen.

„Dort konnten wir auch die ersten VR-Projekte umsetzen und unsere Visualisierungssoftware bei den Großkonzernen platzieren.“ Daimler, Porsche, Bosch und Festo sowie Firmen aus dem Luft- und Raumfahrtprogramm, etwa Airbus, gehören bald zu den Kunden.

Da liegt ein Erlkönig im Safe

Mit Großkonzernen Geschäfte zu machen, bringt eigene Herausforderungen mit sich, etwa bei der Geheimhaltung.

„Wir haben ein VR-Projekt für Daimler gemacht, das werde ich nie vergessen“, erinnert sich Zimmermann an eine Begebenheit im Jahr 2009. „Dabei ging es um die Einführung der neuen E-Klasse. Wir hatten das Know-how im Bereich der digitalen Produktentwicklung, um die Features des neuen Autos in stereoskopischen Filmen darzustellen.“

Zimmermann und sein Team arbeiten eng mit den einzelnen Entwicklungsabteilungen bei Daimler zusammen und produzieren einen VR-Film. In der Messehalle in Leipzig baut Daimler ein 3D-Kino für 400 Journalist:innen. Zimmermann liefert die Technik und errichtet eine sieben Meter breite Rückprojektionswand. Darauf soll die E-Klasse erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Doch der Prozess hat seine Besonderheiten. Vorgabe ist unter anderem ein Safe, in den die Wechselfestplatte mit den hochsensiblen Daten jeden Abend eingeschlossen wird. Eines Abends bekommt Zimmermann einen Anruf von Daimler: „Morgen erscheint ein Bild der E-Klasse in der Auto-Bild. Wir prüfen gerade, wo das Leck ist.“

„Jetzt ist es aus.“ Zimmermann ist klar, was das für eine Tragweite hat. Die Konsequenzen wären massiv, sollte sich herausstellen, dass die undichte Stelle in seiner Firma ist. Doch bald gibt es Entwarnung: Ein Daimler-Mitarbeiter hatte mit dem Handy ein Bild gemacht und es an die Presse verkauft.

Wie kann VR für Unternehmen bezahlbar werden?

Für solche Projekte sind damals noch Investitionen von bis zu einer halben Million Euro und mehr nötig. Mittelständische Unternehmen können sich das kaum leisten. Zimmermann macht sich über die Kostenfrage schon lange vor der Daimler-Geschichte Gedanken: „Was benötigen wir eigentlich, damit wir auch kleine und mittelständische Unternehmen erreichen?“

Seine Idee ist ein Demo-Zentrum, in dem die Technik zur Verfügung steht und Automobilzulieferer und andere Mittelständler mit ihren CAD-Daten vorbeikommen und diese virtualisieren sowie Kunden präsentieren können. Er schreibt ein Konzept, geht dann bei den Bürgermeistern in der Region Stuttgart Klinken putzen und wirbt um Unterstützung.

Beim frisch gebackenen Oberbürgermeister der Stadt Fellbach, Christoph Palm, wird er fündig. Palm hat ein Gespür für Innovation und sieht im skizzierten VR-Kompetenzzentrum großes Potenzial. Er macht 400.000 Euro Fördergeld locker und 2002 wird das Virtual Dimension Center (VDC) Fellbach gegründet.

Personen mit §D-Brillen auf einem Event des VDC Fellbach

Mit dem VDC Fellbach gründet Zimmermann ein VR-Kompetenzzentrum für Unternehmen. | Bild: Martin Zimmermann

Zimmermann schafft als Gründungsvorstand mit seinem Team die Technik an und stellt Mitarbeitende ein. Es soll ein voller Erfolg werden: „Wir haben in diesem Jahr [2022, Anm. d. Verf.] zwanzigjähriges Bestehen gefeiert und auch die Fördersumme der Stadt Fellbach ist schon lange zurückbezahlt.“

Förderungen sieht Zimmermann nicht als Blankoscheck, sondern als Verpflichtung. „Das VDC trägt sich durch Mitgliedsbeiträge und Forschungsmittel als eines von wenigen Kompetenzzentren selbst“, erzählt er stolz.

Feuerlöschen in VR: Vom Rathaussaal in die Stadthalle

2004 exportiert Zimmermann die Idee des VDC nach St. Georgen. Durch seine frühere Tätigkeit im Technologiezentrum besteht noch Kontakt zur Perpetuum-Ebener-Stiftung.

Das Konzept eines VR-Kompetenzzentrums passt in die Philosophie des Technologiezentrums. Fokus soll, anders als in Fellbach, nicht bei der Industrie liegen. Stattdessen konzentriert man sich in St. Georgen auf „Virtual Fires“. So heißt ein Projekt der Europäischen Union, das erforscht, ob und wie Feuerwehrleute mit Virtual Reality trainiert werden können, unter anderem für Tunnelbrände.

An dem Projekt sind die Universität Graz, die Dortmunder Feuerwehr, viele Tunnelbetreiber und weitere Organisationen beteiligt. „Unsere Software wurde für das Projekt ausgesucht, weil wir Feuer und Rauchentwicklung physikalisch korrekt simulieren und visualisieren konnten“, berichtet Zimmermann. „Wir haben sogar die Tunnel – damals noch ganz pixelig – nachmodelliert und du konntest dann wie in einem Serious Game reinlaufen und löschen.“

Das öffentliche Forschungsprojekt endet, eine Fortsetzung ist nicht geplant. Zimmermann will Daten und Erkenntnisse jedoch nicht in einem digitalen Ordner verstauben lassen. Er schlägt der Perpetuum-Ebener-Stiftung vor, einen jährlichen Kongress zu veranstalten, der neue Erkenntnisse sowie Simulationsdaten vorstellt und diskutiert.

„Als wir gesagt haben: Hey, trainiert doch das Feuerlöschen in VR, hat man uns ausgelacht“, erzählt Zimmermann. „Trotzdem starteten wir den Kongress mit 19 Teilnehmenden im Rathaussaal St. Georgen.“

Viele Delegierte beim VR-Kongress Virtual Fires in St- Georgen in der Stadthalle, sitzend an Tischreihen vor einer großen Leinwand auf der Bühne

Der Virtual Fires Kongress in der Stadthalle St. Georgen. | Bild: Martin Zimmermann

Der Virtual Fires Kongress findet in Folge siebzehnmal statt, zuletzt im November 2022. Hunderte Fachleute aus den Bereichen Feuerwehr, Rettung und Katastrophenschutz, Medizin und Verwaltung, aber auch die Cyberabteilung der Bundeswehr kommen jährlich in St. Georgen zusammen und informieren sich über neue Technologien für Einsatzkräfte. Neben Extended Reality (XR) spielt auch Künstliche Intelligenz eine große Rolle, etwa bei der Forschung an humanoiden Rettungsrobotern.

„Es geht längst nicht mehr darum zu zeigen, dass Virtual Reality für das Einsatztraining gut geeignet ist – das ist zwischenzeitlich angekommen“. Zimmermann ist wieder der Visionär, der 1999 mit leuchtenden Augen aus dem CAVE stieg. „Es geht darum, weiterzudenken: Wie können wir VR sinnvoll mit KI verbinden?“

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Innovation & Bildungssystem: „Kommen Sie in 20 Jahren wieder“

Die nächste Idee hat Zimmermann im Europapark Rust. Seine Firma bekommt den Auftrag für eine VR-Erfahrung für Kinder und Jugendliche im Science House des Vergnügungsparks – lange, bevor der Park seine Yullbe-VR-Spiele entwickelt. Über Projektoren und Passiv-Stereobrillen bringt sein Team VR-Erfahrungen auf eine immersive Leinwand. Ein Profi-Joystick, der sonst nur in Kränen zum Einsatz kommt, lässt die Kinder durch virtuelle Welten fliegen. „Eine ganze Reihe Joysticks haben die Kids kaputt bekommen, bis wir ein Modell gefunden hatten, das robust genug war“, lacht Zimmermann.

Die Begeisterung und das Leuchten in den Augen der Kinder, die kaum vom Steuerknüppel wegzubekommen sind, zeigt Zimmermann sein nächstes Ziel. „Ich will Virtual Reality in die Schulen bringen.“

Kind mit 3D-Brille an einem Joystick vor einem Bildschirm mit einer VR-Erfahrung im Europa Park Rust

Das VR-Erlebnis im Europapark sorgte bei den Kindern für Begeisterung. | Bild: Martin Zimmermann

Er gründet 2004 die Visenso GmbH, die im Bereich Bildung den VR-Markt voranbringen soll. Wieder klopft Zimmermann bei Christoph Palm an, der mittlerweile im baden-württembergischen Landtag sitzt. Der vermittelt eine Audienz beim Kultusminister. Die Demo soll in einer Sitzungspause im Landtag stattfinden.

Mit dem Lkw karren Zimmermann und sein Team die VR-Technik in den Landtag. Der Kultusminister schaut sich den Prototyp des „3D-CyberClassroom“ für den Schulunterricht an. Die ersten rudimentären Physik- und Biologie-Module überzeugen.

„Er hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt: Zimmermann, sensationell, das ist super. Kommen Sie in zwanzig Jahren wieder.“

Vom Prototyp zum interaktiven 3D-Stereo-Lernerlebnis

Zimmermann ist klar, dass aus der Politik so schnell keine Unterstützung kommt. Es gibt aber noch die Perpetuum-Ebner-Stiftung zu Hause. Dort findet man die Idee ebenfalls hervorragend, sagt aber im Gegensatz zur Politik direkt Unterstützung zu. Die Bedingung: eine Kooperation mit dem örtlichen Thomas-Strittmatter-Gymnasium St. Georgen (TSG).

Ein fahrbarer Bildschirm für 3D-Visualisierungen steht links, rechts davon ein PC auf einem Computertisch

Ein Vorläufer des CyberClassroom aus dem Jahr 2005. | Bild: Martin Zimmermann

„Wir hatten ein Budget, konnten weiterentwickeln und sind zum ersten Mal mit Lehrenden zusammengekommen“, fährt er fort. „Es wurde und ist bis heute eine großartige Kooperation. Die Lehrkräfte wollten VR wirklich verstehen und haben an den VR-Storyboards mitgearbeitet, während parallel Schüler:innen zum Testen und Üben in unsere Firma kamen und bis heute kommen.“

2011 entsteht der erste CyberClassroom in Zusammenarbeit mit VS Möbel in Würzburg, ein individuell angefertigter mobiler Medienwagen mit 3D-TV, 3D-Brillen, Wii-Remote und PC samt VR-Lernsoftware in der Schublade.

Gleichzeitig macht sich Zimmermann auf die Suche nach weiteren Unterstützern, diesmal in der Wirtschaft. Evonik Industries überdenkt gerade seine Sponsoring-Aktivitäten im Bildungsbereich – man will nicht mehr einfach nur Dächer, Regenrinnen und Stühle sponsern, sondern auch neue Talente finden und fördern. Partnerschulen von Evonik dürfen sich in Folge um eine Ausstattung mit dem CyberClassroom bewerben, müssen aber inhaltlich an den VR-Lernmodulen mitarbeiten.

CyberClassroom 3D-TV mit der Darstellung eines menschlichen Herzens, davor drei junge Leute mit 3D-Brillen

Der CyberClassroom in einer aktuellen Ausführung. | Bild: Martin Zimmermann

„Wir haben damals 15 Schulen in Nordrhein-Westfalen mit dem Prototyp ausgestattet und hatten so 15 neue Autor:innen, mit denen wir weitere VR-Inhalte entwickeln konnten.“ Kernthemen sind Physik, Biologie und natürlich Chemie. Der CyberClassroom kann endlich langfristig weiterentwickelt werden.

„Das ist der Durchbruch, jetzt kommt VR an die Schulen!“

Anfang 2012 hält Zimmermann auf der Bildungsmesse Learntec in Karlsruhe einen Vortrag. „Das war so ein typischer Messevortrag“, erinnert er sich. „Fünf Leute da, zwei davon vespern, die anderen hören gefühlt nur mit halbem Ohr zu.“ Er zieht den Vortrag trotzdem durch.

Offenbar hört jemand genauer hin: Eine Mitarbeiterin der Frankfurter Buchmesse findet das Konzept des CyberClassroom spannend und lädt Zimmermann auf die Buchmesse ein, um das „Klassenzimmer der Zukunft“ zu präsentieren.

Kinder mit 3D-Brillen an einer Powerwall auf der Frankfurter Buchmesse 2022

Kinder mit 3D-Brillen an einer Powerwall des CyberClassroom auf der Frankfurter Buchmesse 2022. | Bild: Martin Zimmermann

Evonik sponsert den Stand auf der Buchmesse, der mit über 300 Quadratmetern und vielen interaktiven Ständen samt 3D-Brillen und einer Powerwall das Thema VR in der Schule erstmals groß präsentiert.

Sämtliche Medien berichten und auch das Fernsehen steht mehrfach auf der Matte. „Ich habe noch nie erlebt, dass die Security einen Stand sperren musste“, strahlt Zimmermann. „Da gab es lange Warteschlangen, alle wollten den CyberClassroom erleben. In dem Moment waren wir überzeugt: Das ist der Durchbruch, jetzt kommt VR an die Schulen.“

Viele Menschen stehen beim CyberClassroom auf der Frankfurter Buchmesse 2012 Schlange

Lange Schlangen auf der Buchmesse Frankfurt (2012) für Präsentationen rund um das Klassenzimmer der Zukunft. | Bild: Martin Zimmermann

Doch Bürokratie und vor allem der mangelnde Digitalisierungs- und Veränderungswille im deutschen Bildungssystem belehren ihn eines Besseren. Viele Schulen haben bis heute kein oder nur schlecht funktionierendes WLAN. Tablets und PCs sind Mangelware. Lehrer:innen müssen oft in Eigenregie für digitale Bildung und entsprechende Unterrichtsinhalte sorgen – zumindest diejenigen, die das Know-how haben.

Mittel aus Digital-Initiativen und dem Digitalpakt sind auch Jahre später immer noch nicht in den Schulen angekommen. Gerade die Pandemie hat gezeigt, wie schlecht deutsche Schulen digitalisiert sind – die Leidtragenden sind die Kinder.

„Vieles fließt noch in die Grundausstattung, dass etwa überhaupt eine Breitband-Internetanbindung vorhanden ist oder das WLAN mal endlich zuverlässig funktioniert. Da fallen aktuelle Innovationen wie VR und AR hinten runter.“ Trotzdem sieht Zimmermann Bewegung bei diesem Thema, wenn auch langsam. Es wird mehr publiziert, VR als sinnvolle Technologie für Bildung und Training bekommt mehr Aufmerksamkeit.

Erste progressiv veranlagte Lehrende und Schulleiter:innen probieren VR-Brillen aus. Plötzlich steigen auch die Anfragen.

Pädagogischer Käse & Stationen-Lernen

2015 überführt Zimmermann seine Unternehmung in die imsimity GmbH, die alle bisherigen Geschäftsbereiche – Beratung, Konzeption und Integration von XR-Technologien – in sich vereint. VR-Bildung und VR-Training sind dabei bis heute maßgebliche Bestandteile des Portfolios.

Ein optimales, intuitives Bedienungskonzept für VR-Anwendungen im Klassenraum ist Zimmermann bei der (Weiter-)Entwicklung besonders wichtig. Hier hat er schon einmal Lehrgeld gezahlt. Damals sollen stereoskopische Lernfilme über eine Videobrille, die „Zeiss Cinemizer“, für pädagogischen Mehrwert sorgen.

„Wir haben 30 Cinemizer-Brillen in eine Schulklasse des TSG gebracht. Die Lehrer:innen konnten auf einem Laptop steuern, was die Schüler:innen sahen.“ Das Projekt wird jedoch schon nach kurzer Zeit wieder beerdigt. Warum?

Martin Zimmermann mit einer Zeiss Cinemizer-Brille.

Martin Zimmermann mit einer Zeiss Cinemizer-Brille in seinem kleinen VR-Museum in St. Georgen. | Bild: MIXED

„Pädagogisch war das totaler Käse“, sagt Zimmermann rückblickend. „Niemand hat mehr miteinander gesprochen, es gab keinen Austausch, keine Interaktion.“ Schweigen im Klassenzimmer klingt in der Tat nach keiner guten Idee.

Statt allen Schüler:innen eine VR-Brille aufzusetzen, geht Zimmermann gemeinsam mit den Fachlehrkräften des TSG einen anderen Weg. Sie nennen es „Stationen-Lernen“. Kleine Gruppen von drei bis vier Schüler:innen lernen gemeinsam an verschiedenen Endgeräten. Eine Person hat jeweils im Wechsel die VR-Brille auf und interagiert in der virtuellen Lernwelt. Die anderen schauen über ein großes Display zu, leiten die Interaktion an und diskutieren über das Lernerlebnis.

Die jungen Menschen ins Boot holen

Die jahrelange Expertise im VR-Bildungsbereich zahlt sich für Zimmermann aus. VR-Lernanwendungen wie der CyberClassroom oder „VR4School“ werden im Netz gefunden. An diesen Projekten ist auch der neue Kooperationspartner Intel beteiligt.

2019 weitet Zimmermann die Zusammenarbeit mit Intel aus, das Programm AI For Youth wird ins Leben gerufen. Die Bildungsinitiative schult Lehrende im Verständnis und der Anwendung von KI-Tools im Unterricht. Intel erweitert das Bildungsprojekt 2022 mit dem Programm „Skills for Innovation“.

Zimmermann und zwei Kollegen auf der Didacta-Messe

Martin Zimmermann (Mitte) und Intel-Partner mit dem Programm Skills for Innovation auf der Didacta 2022. | Bild: Martin Zimmermann

Für Zimmermann ist Bildung mit immersiven Technologien Lebenswerk und Leidenschaft. Das erkenne ich etwa daran, wie er über Digitalisierung in Verbindung mit jungen Menschen spricht. Er habe die Weisheit keineswegs mit Löffeln gefressen: „Auch wenn ich eine Softwarefirma habe, kann ich nicht komplett überschauen, was Digitalisierung eigentlich für Kinder und Jugendliche bedeutet.“

Deshalb setzt er auf Schülerberater:innen, die sein Team regelmäßig über Digitaltrends aus ihrem Altersbereich aufklären und wertvolles Feedback zu den VR-Modulen abgeben. „Ich bin heilfroh, dass wir ständig neue Student:innen bei uns haben, die uns auf die digitalen Sprünge helfen, was gerade angesagt ist und was wir in unsere Entwicklungen integrieren sollten und was nicht.“

Für ihn ist das ein wichtiger Punkt: Wer seine Zielgruppe, etwa Gen Z (ab 1996) oder Gen Alpha (ab 2010) verstehen will, muss sie mit ins Boot holen. Studien und Umfragen helfen nur sehr eingeschränkt, etwas über Lebensweise und -einstellung junger Menschen zu erfahren.

Virtual Reality lässt sich nicht (mehr) aufhalten

Zimmermann sieht trotz eigener Erfolge und der Fortschritte der XR-Branche Deutschland als Innovationsstandort immer mehr ins Hintertreffen geraten. Das habe unter anderem mit der Unfähigkeit zur umfassenden Aufklärung über neue Technologien zu tun, aber auch mit mangelnder Umsetzungsstärke.

Er erlebt das etwa im Arbeitskreis der Bundesregierung der Plattform Lernende Systeme, dem er seit 2017 angehört. „Da kam die Frage auf: Was machen wir hier eigentlich? Wir schreiben Whitepapers und Empfehlungen, die aber die Menschen gar nicht erreichen. Wir müssen doch eigentlich hingehen und VR und KI so erklären, dass ihnen die Angst vor neuen Technologien genommen wird. Was kann uns das bringen, wie wird das die Arbeitswelt verändern und wie reagieren wir darauf?“

Schulungsraum für VR bei imsimity GmbH in St. Georgen

VR-Schulungsraum von imsimity in St. Georgen. | Bild: MIXED

Ein weiterer Grund für das Zurückfallen Deutschlands in Innovationsfragen seien die Strukturen, denen etwa Förderungen zugrunde liegen. „In den USA endet ein Forschungsprojekt in der Regel mit einem Produkt oder einem Start-up. Bei uns enden Forschungsprojekte mit einer nicht gelösten Frage. Denn nur mit dieser nicht gelösten Frage kann ich wieder einen neuen Antrag auf Fördergeld stellen.“

Der Trend zu immersiven Medien und auch zu einem Metaverse kann nicht aufgehalten werden, davon ist Zimmermann überzeugt. „Auf dem Weg dahin werden wir viel lernen, viele Fehler machen. Wir werden weiterhin belächelt und einige werden wieder sagen: Die spinnen doch. Aber nur indem wir diese neuen Möglichkeiten ausprobieren und in der Praxis anwenden, sammeln wir neue Erfahrungen und lernen, mit den neuen Technologien umzugehen und sie möglichst sinnvoll einzusetzen.“

Verschiedene Auszeichnungen, etwa von der Ferry-Porsche-Stiftung, dem Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung zeigen ihm, dass er auf dem richtigen Weg ist – auch wenn es mal wieder etwas länger dauert.

Als ich wieder auf dem Bahnsteig in St. Georgen stehe, ist es schon lange nicht mehr grau. Die Sonne strahlt und ich überlege gerade, ob das im Kontext dessen, was ich gerade drei Stunden lang über Innovation und Technologie gehört habe, ein gutes Zeichen ist. Dann kommt die Durchsage: „Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf verspätet sich der Zug um 60 Minuten.“