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VR-Pionier Jaron Lanier hat etwas Wichtiges über VR zu sagen

VR-Pionier Jaron Lanier hat etwas Wichtiges über VR zu sagen

Der VR-Pionier Jaron Lanier warnt vor einer Zukunft, in der wir in Virtual Reality leben. Ist die Angst begründet?

Jaron Lanier gründete in den 80er-Jahren das Unternehmen VPL Research, das die ersten kommerziellen VR-Headsets und VR-Anwendungen entwickelte und prägte den Begriff Virtual Reality. Anlässlich der Markteinführung von Apple Vision Pro veröffentlichte Lanier einen Kommentar im New Yorker, der in der VR-Community nur wenig Widerhall fand oder jedenfalls kaum diskutiert wurde.

Lanier blickt in seinem Aufsatz auf seine Jahre bei VPL zurück, beschreibt die hellen und dunklen Seiten der Technologie, wie er sie sieht und stellt die wichtige Frage danach, welche Rolle Virtual Reality dereinst im alltäglichen Leben spielen könnte.

Gaming schließt er als prägende Anwendung aus, da Gamer „größer sein wollen als das Spiel statt von ihm verschlungen zu werden“. Virtual Reality glänze dann, wenn sie eine aktive Erfahrung ist, die die Nutzer:innen prägen statt umgekehrt und wenn sie die Wertschätzung für das wahre Leben steigere statt versuche, diese zu ersetzen. Ansonsten laufe sie Gefahr, Menschen noch mehr aufzuregen und zu deprimieren, als es die kleinen Bildschirmen von Smartphones tun, so Lanier.

„Das Leben in VR ist sinnlos“

VR-Headsets würden heute als etwas vermarktet, dass man für alltägliche Verrichtungen nutzen kann. Lanier sei jedoch schon immer der Meinung gewesen, dass Virtual Reality am sinnvollsten ist, wenn sie etwas Bestimmtes und Praktisches bewirkt, das nicht sehr lange dauert, oder wenn sie so seltsam wie möglich ist.

Gegen Ende seines Kommentars spitzt Lanier seine Kritik zu:

Investoren und CEOs sprechen davon, wie die Menschen die meiste Zeit in der VR verbringen werden, so wie sie auch viel Zeit mit ihrem Telefon verbringen. Die Motivation, sich diese Zukunft vorzustellen, liegt auf der Hand: Wer würde nicht gerne die nächste iPhone-ähnliche Plattform besitzen? Wenn die Menschen mit einem Headset im Gesicht leben, wird die Person, die die VR-Plattformen betreibt, ein gigantisches, äußerst profitables Imperium kontrollieren.

Aber ich glaube nicht, dass Kunden diese Zukunft wollen. Die Menschen können die sich abzeichnende Absurdität spüren und sehen, wie sie dadurch Bodenhaftung und Sinn verlieren.

(...) Die Wahrheit ist, dass das Leben in VR sinnlos ist. Das Leben innerhalb einer Konstruktion ist ein Leben ohne Grenzen und Herausforderungen. Es ist geschlossen, kalkuliert und nutzlos. Realität, die wirkliche Realität, das geheimnisvolle physikalische Zeug, ist offen, unbekannt und liegt jenseits von uns; wir dürfen sie nicht verlieren.

Die VR-Dystopie ist in weiter Ferne

Laniers Frage nach dem Stellenwert, den VR für das Leben hat, ist wichtig. Wir brauchen uns jedoch keine Sorgen zu machen, dass sie das Leben ersetzen oder uns zu passiven Objekten im Dauerberieselungsmodus machen wird, zumindest nicht in absehbarer Zukunft.

Zum einen sind VR-Headsets noch zu groß und schwer, als dass man sie den ganzen Tag oder auch nur mehr als eine Stunde am Stücken tragen wollen würde. Ich bin VR-Enthusiast und halte mich selten länger als eine Stunde in VR auf. Wenn die letzten zehn Jahre technologische Entwicklung ein Gradmesser sind, dann wird es noch lange, sehr lange dauern, bis die Geräte so klein und leicht geworden sind, dass der Tragekomfort ein massenverträgliches Maß erreicht. Ich gehe mit Lanier darin überein, dass kurze und intensive VR-Sitzungen am schönsten sind.

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Zum anderen ist Virtual Reality eine Technologie, die den Körper einbindet und umso mächtiger wird, je mehr man sich bewegt. Das ist ein großer Unterschied zu herkömmlichen Computern, Konsolen, Smartphones und Tablets. Viele Menschen treiben Fitness mit VR-Headsets und ich spiele seit Kurzem Virtual Reality in einem naheliegenden Wald und an der frischen Luft. Apple mag Vision Pro als räumlichen Computer und Medienabspielgerät, das man vornehmlich im Sitzen und passiv nutzt, vermarkten, aber dabei wird es nicht bleiben.

Und wie steht es um geistige und kreative Aktivität? Es gibt gute Gründe (Stichwort: Generative KI), anzunehmen, dass Nutzer:innen dereinst in der Lage sein werden, leichter als je zuvor eigene Welten und Erfahrungen zu kreieren und dass Virtual Reality das ideale Medium für das Schaffen und Teilen solcher Inhalte mit anderen sein wird.

Das Meatverse schlägt das Metaverse

Der Kommentar erweckt bei mir den Eindruck, dass Lanier den Stand der Technik und Nutzung nur vom Hörensagen und nicht aus eigener Erfahrung kennt. Dafür spricht, dass er VR-Gaming abwertet und die kreative und soziale Seite des Mediums (VRChat!) sowie Fitnessanwendungen nicht einmal erwähnt.

Aber gleichzeitig finden seine Worte bei mir großen Widerhall und lösen starke Gefühle aus. Ich meine sein Plädoyer, dass VR das Leben bereichern und nicht ersetzen soll. Genau so sehe ich das auch.

Sein Aufsatz ist mehr als Kulturpessimismus und wurde für die Zukunft, nicht die Gegenwart geschrieben. Möglich, dass wir in fünfzig Jahren viel Zeit in ultraleichten Headsets verbringen und dann stellt sich tatsächlich die Frage, was die Technologie mit uns macht.

Ich habe bereits geschrieben, weshalb ich das Meatverse dem Metaverse vorziehe und ich erwarte nicht, dass sich daran etwas ändert. Manchmal kommt es vor, dass ich zwei Stunden oder länger in der VR verharre, weil sie mich so fesselt. Aber danach bin ich meist froh und atme auf, wenn ich das Headset vom Gesicht nehme und zurück in der wirklichen Welt bin, mit all ihren Möglichkeiten und Mängeln.

Nach einer langen VR-Sitzung fühle ich mich zuweilen so, als hätte ich mir in einem Fast-Food-Restaurant den Bauch vollgeschlagen anstatt eine reichhaltige Mahlzeit zu mir zu nehmen. Mein Magen ist voll, aber der Körper fühlt sich verraten. VR überflutet einen mit Reizen, aber intuitiv weiß man, dass diese Wirklichkeit eine Mogelpackung ist, dass etwas Substanzielles fehlt, sei es Haptik, Geruch oder einfach nur das „geheimnisvolle physische Zeug“, von dem Lanier spricht. Ich vertraue auf dieses Gefühl. Es hält mich in dieser Welt verwurzelt.

Jaron Laniers Kommentar könnt ihr in der Online-Ausgabe des New Yorker nachlesen.