"Kiss Me First"-Kritik: Kann Virtual Reality auch mal cool sein?

Titelbild: Netflix, Screenshot "Kiss Me First"

Netflix neue Virtual-Reality-Serie "Kiss Me First" lässt die VR-Brille abermals aussehen wie ein hässliches Nerd-Spielzeug für Menschen, die aus der Realität flüchten müssen. Dieses Stigma ist so mächtig, dass es der VR-Branche im Wege steht.

Als sich die 17-jährige Leila in die VR-Welt Azana einklinkt, sorgt das für ein erstklassiges Fremdschämgefühl: Während das Mädchen in der Virtual Reality fliegt, taucht, neue Kontakte macht und die tollsten Dinge erlebt, sitzt sie in der grauen Realität regungslos mit einem 80er-Jahre-Joystick und einer unfassbar hässlichen Plastikbrille auf dem Kopf einsam vor ihrem Rechner.

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So traurig stellen sich besorgte Eltern die Virtual Reality vor. Doch selbst ausgemachte VR-Enthusiasten dürften bei solchen Szenen zusammenzucken: Soll das die Zukunft sein von Mensch und Computer? Sperren wir uns tatsächlich freiwillig in eine Parallelwelt weg? Und sehen wir dabei wirklich so unfassbar blöde aus?

Hinzu kommt, dass Leila nach Azana reist, da sie mit ihrem realen Leben nicht zurechtkommt. In der virtuellen Zwischenwelt findet sie eine digitale Therapiegruppe ähnlich veranlagter Jugendlicher, die in der Realität emotional überstrapaziert sind.

Weit hergeholt ist dieses Szenario nicht: Kürzlich schrieb ich eine Geschichte auf, die genau solche Treffen in der Social-App VRChat beschreibt.

Kann die VR-Zukunft wirklich nur eine Dystopie sein?

Solche Negativerzählungen ziehen sich hartnäckig durch fast alle VR-Geschichten: Die virtuelle Realität wird zum Zufluchtsort, wenn die Realität kollektiv ("Ready Player One", "Matrix") oder für das einzelne Individuum ("Kiss Me First") gescheitert ist. Ist die Realität wieder im Lot, verliert die Virtual Reality an Bedeutung (siehe Ende "Ready Player One").

Dramaturgisch ist dieser erzählerische Ansatz nachvollziehbar: Es ist der Konflikt zwischen ursprünglich und synthetisch, der Reibung verursacht und die Geschichte stark macht.

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Dieser Konflikt wirkt, da er instinktiv in den Menschen verankert ist. Das sieht man an den Debatten zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz.

In ihm steckt die übergeordnete Frage: Wie soll ein Mensch sein? Unabhängig, eins mit dem eigenen Körper, bewusst - oder angeschlossen an und abhängig von einer Maschine?

Die Antwort auf diese Schwarz-Weiß-Frage fällt leicht. Und weil sie leichtfällt, eignet sie sich gut fürs Geschichtenerzählen.

Was der VR-Branche fehlt, ist eine kraftvoll positive Erzählung: eine VR-Utopie, in der die Technologie die Realität nicht ersetzt, sondern sie sinnvoll ergänzt. In der die Menschen die VR-Brille gerne aufsetzen und nicht, weil ihnen die triste Realität keine bessere Alternative mehr bietet. Und in der die Geräte kein Frontalangriff auf die menschliche Eitelkeit sind.

Kiss Me First kann ab sofort bei Netflix angesehen werden.