VR und Geschichte: Ein Besuch in der virtuellen Synagoge in Marburg

VR und Geschichte: Ein Besuch in der virtuellen Synagoge in Marburg

1938 zerstörten die Nazis fast alle Synagogen in Deutschland, auch in Marburg. Ein ortsansässiges Softwareunternehmen hat die beiden Synagogen der Stadt nun virtuell rekonstruiert und lädt in einem VR-Erlebnis zu einer Zeitreise in die Vergangenheit ein.

Dort, wo im Mittelalter die Marburger Synagoge stand, ist heute ein kleines Gebäude aus Glas-Wänden. Besucher:innen schauen hinab auf den steinernen Boden einer Ausgrabung und können nur erahnen, wo die Synagoge oberhalb des Marktplatzes einmal stand. Die Marburger Softwareschmiede Inosoft AG hat das mittelalterliche Gotteshaus für eine VR-Erfahrung digital wieder aufgebaut.

Lernen und Staunen in VR

Beim Blick durch die VR-Brille finde ich mich plötzlich in der mittelalterlichen Oberstadt von Marburg wieder. Es ist ein sonniger Tag, um mich herum Fachwerkhäuser, in der einen oder anderen Ecke liegen ein Eichenfass, ein Holzeimer oder ein Wagenrad. Ich höre gedämpft Pferdegetrappel und Entengeschnatter. Die Synagoge vor mir ist ein kleines, weißes Gebäude mit einem runden Buntglasfenster an der Stirnseite. Mit dem Controller kann ich mich frei bewegen – entweder mit sanftem Gleiten durch Druck auf den Joystick oder per Teleportation. Das Ganze sieht richtig gut aus. Hier war eindeutig die Unreal Engine im Einsatz.

Schautafeln in Form von Papierrollen öffnen sich, wenn ich sie mit der Hand berühre. Da ist zum Beispiel das Foto, das den heutigen Blick auf die Szenerie zeigt. Dieselbe Treppe, vor der ich virtuell stehe, ist auch heute noch erhalten. In der Synagoge selbst komme ich zunächst an einem kleinen Vorraum vorbei – das war der Raum für die Frauen, sagt mir eine Info-Tafel. Tatsächlich saßen Frauen und Männer nämlich getrennt, um sich nicht abzulenken.

Eine virtuelle Rekonstruktion von Marburg im 19. Jahrhundert.

Auch das Gebiet um die Synagoge herum hat das Team von Inosoft in VR rekonstruiert. | Bild: Inosoft AG

Auch der eigentliche Gottesdienstraum ist nicht sehr groß, fast gemütlich. Es ist dunkel, aber die Sonne schickt einen hellen Strahl durch das Glasfenster. Es gibt keine Stühle, nur einen Toraschrein. Die Tora besteht aus den fünf Büchern Mose und ist das Herzstück jeder Synagoge, erklärt mir eine Schriftrolle.

Ein kurzer Text erklärt mir, dass der siebenarmige Leuchter, die „Menora“, eigentlich eine Erinnerung an den zerstörten Tempel in Jerusalem ist. Siebenarmige Leuchter werden deshalb nicht mehr in Synagogen oder für religiöse Zwecke benutzt, sondern nur als Symbol. Verwendet wird der Chanukka-Leuchter mit acht plus eins Armen. Interessant auch: der Schlussstein dieser Synagoge ganz oben in der Mitte der Kuppel besteht aus einem floralen Davidstern. Er war bei den Bauarbeiten an diesem Ort der erste Hinweis auf die Reste der Mittelalterlichen Synagoge.

Geschenk für die Stadt zur 800-Jahr-Feier

Verantwortlich für diese VR-Erfahrung ist das Softwarehaus Inosoft AG mit Sitz im hessischen Marburg an der Lahn. „Im Jahr 2022 feierte die Stadt das 800-jährige Jubiläum“, erklärt Geschäftsführer Thomas Winzer. „Es gab dazu einen Aufruf: Wer gute Ideen hat, kann sich beteiligen. So hatten wir den VR-Nachbau der mittelalterlichen Synagoge in der Oberstadt eingebracht. Sozusagen als Geburtstagsgeschenk für die Stadt.“

Bei den Jubiläumsfeierlichkeiten konnten Besucher:innen mit sieben Meta Quest VR-Brillen die VR-Synagoge direkt vor Ort besichtigen. Rund 4.000 Menschen machten von diesem Angebot Gebrauch. In einem kleinen Museumsraum neben der Ausgrabungsstätte am Obermarkt stehen auch jetzt noch zwei VR-Brillen dauerhaft zur Verfügung.

Aufgrund des großen Interesses hat sich Inosoft entschlossen, auch die neue Synagoge in Marburg, die in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wie 1400 andere Synagogen zerstört wurde, virtuell wiederauferstehen zu lassen. Die 1897 erbaute Synagoge stand in der Universitätsstraße 11 am Fuße der Oberstadt. Heute ist dies eine stark befahrene Straße. Gegenüber befindet sich die Juristische Fakultät. Seit 2012 erinnert der „Garten des Gedenkens" an das ehemalige jüdische Gotteshaus: Sitzgelegenheiten, ein weißer Grundriss im Boden und die von Marburger*innen jedes Jahr neu befüllten „Zettelkästen“ regen zum Nachdenken über den Ort an.

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Geld verdient Inosoft mit den VR-Experimenten nicht. Das Unternehmen mit 70 Mitarbeitern und 30 Jahren Erfahrung habe sonst wenig mit Virtual Reality zu tun, erklärt mir der Geschäftsführer. Normalerweise entwickle man individuelle Anwendungen für die Industrie, meist für Microsoft-Umgebungen. Seit sieben Jahren sei VR auch ein Thema, wenn auch nur am Rande. Die Entwicklung der VR-Synagogen habe Inosoft rund 15.000 Euro gekostet, sagt Winzer. Viel Forschungsarbeit sei nötig gewesen, Drohnenflüge und 3D-Scans.

Auf die Frage, ob es finanzielle Unterstützung von der Stadt gegeben habe, lacht Winzer: „Viele andere Städte kommen auf uns zu und wünschen sich auch solche Anwendungen, die würden auch Geld dafür bezahlen. Aber die Stadt Marburg ist da eher zurückhaltend.“ Ein bisschen weckt Inosoft damit aber auch das Interesse am eigenen Unternehmen, junge Fachkräfte könnten so für das Unternehmen gewonnen werden. Der technische Aufwand, die VR-Brillen dauerhaft vor Ort in der Universitätsstraße anzubieten, sei aber zu hoch. Man müsse schon nach Absprache in die Räume der Softwarefirma oder in die Oberstadt kommen, um sich die VR-Erlebnisse anzuschauen.

Erinnerungskultur als VR-Erlebnis

Auch der virtuelle Rundgang durch die neue Synagoge beeindruckt. Viel größer als der mittelalterliche Bau in der Oberstadt steht das steinerne Gebäude vor mir. Drei große Fenster mit je einem Davidstern weisen es als Synagoge aus. Die Straße und die umliegenden Gebäude sind nur rudimentär in 3D umgesetzt, aber das reicht aus, um sich als Ortskundiger zurechtzufinden.

Eine virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Marburg.

Die VR-Erfahrung zeigt das Innere der Synagoge in Marburg mit vielen Details. | Bild: Inosoft

Drinnen erwartet mich ein schöner, eckiger Raum mit Kronleuchtern an einer Holzdecke. Es gibt Holzbänke wie in einer Kirche, fast 500 Menschen haben damals hier Platz gefunden. Vorn ist die steinerne Bima (Podium) mit dem Lesepult für die Torahrollen, dahinter der rote Vorhang, hinter dem die Thorarolle aufbewahrt wurde. Ich kann auch auf die Empore gehen, wo früher die Frauen saßen. Von hier aus habe ich einen noch besseren Blick über den ganzen Saal. Schade, dass es keine Schautafeln oder einen Audioguide gibt, der mir mehr über das Gebäude und die Objekte erzählt. Die VR-Erlebnisse würden aber ständig weiterentwickelt, sagt Thomas Winzer. Derzeit wird zum Beispiel am Keller des Gebäudes gearbeitet, in dem sich ein Reinigungsbecken befand.

Es gäbe noch Potenzial, diese App zu bereichern, interaktive Infopoints wären zum Beispiel gut, vielleicht Sprecher:innen, die mir auf Klick bestimmte Dinge erklären. Denkbar wären auch eingeblendete Interviewvideos, vielleicht mit einem Rabbiner, Historiker:innen oder Mitgliedern der heutigen jüdischen Gemeinde. Hilfreich wäre eine eingeblendete Karte, die mir zeigt, wo ich mich gerade in der Stadt befinde.

Aber auch so ist die kostenlose App, die Inosoft ohne finanzielle Absichten entwickelt hat, für mich wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, wo VR abseits von Spielen sinnvoll eingesetzt werden kann. Sie erinnert nicht nur an zwei historisch bedeutsame Gebäude an prominenter Stelle in Marburg, sondern klärt ganz nebenbei über Aspekte des Judentums auf und wirkt damit auch ein wenig gegen Vorurteile, Unwissenheit und Missverständnisse gegenüber der jüdischen Gemeinde.