Oculus Rift: Faszinierender Ausflug nach Tschernobyl mit der VR-Brille

Oculus Rift: Faszinierender Ausflug nach Tschernobyl mit der VR-Brille

Kaum ein Ort auf der Welt visualisiert das menschliche Scheitern so eindrucksvoll und nachhaltig wie die Ruinen von Tschernobyl. Wer der Faszination dieser Zerstörung erliegt, kann mit "Chernobyl VR" für Oculus Rift eine eindrucksvolle Dokumentarreise erfahren.

Mit einer Drohne werde ich langsam nach oben geflogen, entlang am Gerüst dieser Monstrosität, die sich "Moscow Eye" nennt. Ein Geflecht aus Draht, Stahl und Rost erstreckt sich über hunderte Meter in Länge und Breite.

Ein Sprecher erzählt mir im gebrochenen Englisch, dass die Menschen einst glaubten, dass das Gebilde Stürme entstehen oder Gedanken manipulieren könne. In Wirklichkeit diente der Duga-Radar wohl der Raketenabwehr. Obwohl, ganz ehrlich: Als ich oben ankomme und an dem Gerüst herunterblicke, halte ich die Sturmtheorie für wesentlich wahrscheinlicher. 1,5 Milliarden US-Dollar kostete dieses Denkmal menschlichen Wahnsinns bei der Konstruktion. Es wurde 1986 stillgelegt, als der Reaktor im Atomkraftwerk Tschernobyl explodierte.

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Die VR-Dokureise Chernboyl VR bietet viele solcher kuriosen, teils fürchterlichen und ebenso fürchterlich eindrucksvollen Aus- und Einblicke. Auf dem Dach eines verlassenen Plattenbaus schaue ich aus der Ferne auf den gigantischen Neubau des Sarkophags, der in diesen Tagen fertiggestellt und wie eine riesige Glocke über den Atommüll gestülpt wird. Deckel drauf und gut ist. Wenige Momente zuvor stand ich direkt vor dem Atomsarg, legte den Kopf in den Nacken und blickte an dem absurden Gebäude nach oben. Gänsehaut.

Im verlassenen Schwimmbad von Pripyat stehe ich auf dem Zehnmeterturm und schaue mich um an einem Ort, der einst voller Leben gewesen sein muss. Ab und an erkenne ich in Schutt und Asche noch Überbleibsel dieser Zeit. Zerstörtes Spielzeug, Fetzen von Kleidung.

Ich springe in die nächste Szene und fliege an einer Drohne hängend in einen kleinen Vorort, der eigentlich nur eine Ansammlung zerstörter Holzhütten im Matsch ist. Ein alter Mann steht vor mir und erklärt, warum er in dieser trostlosen Kulisse seit Jahrzehnten existiert. Ich verstehe ihn nicht gut, schaue mich lieber selbst um - das hier kann Heimat sein?

Oculus Rift: Faszinierender Ausflug nach Tschernobyl mit der VR-Brille

Eine Dokumentarreise mit der VR-Brille

Insgesamt 14 solcher Kurztrips in die Umgebung des Unglücksreaktors bietet Chernobyl VR in der Early-Access-Version bei Steam für HTC Vive und Oculus Home. Die Entwickler arbeiten noch an dem Projekt, verbessern alte Inhalte und fügen neue Orte hinzu.

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Die VR-Erfahrung solle sich anfühlen, als würde man einen Dokumentarfilm betreten, sagt einer der Entwickler vom polnischen Studio Reality 51. In der Dokuerfahrung gibt es reichlich Inhalt zu entdecken. Wer alle Details wahrnehmen und ganz und gar in die Atmosphäre des verwunschenen Ortes eintauchen will, sollte sich einige Stunden Zeit nehmen. Es gibt in dieser Erzählung keinen roten Faden. Als Zuschauer kann man sich frei zwischen den verschiedenen Orten bewegen und sie erkunden.

Neben der non-linearen Erzählstruktur ist Chernobyl VR auch technisch ein interessanter Hybrid. Denn das polnische Studio mixt sämtliche Inhaltstypen, die es aktuell für die VR-Brille gibt. Zum Einsatz kommen 360-Videos, 360-Fotos und gerenderte Umgebungen, die teils mit originalen Fotoaufnahmen texturiert wurden und auf diese Art eine realistische Atmosphäre vermitteln.

Zum Beispiel wurde die "Schule Nummer 3" in Pripyat mit dieser Photogrammetrietechnik virtualisiert und texturiert. Die gerenderten Szenen sind im Gegensatz zu den Fotos und Videos frei begehbar. Wie in einem Computerspiel kann man die zerstörten Klassenräume erkunden, dennoch ist die Wirkung realistisch. Auch der Kontrollraum des Unglücksreaktors wurde originalgetreu am Computer nachgebaut und ist frei begehbar. Dieser Szenen- und Technikmix findet nahtlos statt und funktioniert erstaunlich gut.

Leider gibt die technische Umsetzung immer wieder Anlass zu Kritik. Fortlaufend werden alle Regeln verletzt, die dabei helfen, die unangenehme VR-Übelkeit in Schach zu halten. Oculus VR vergibt völlig zu Recht die Komfortbewertung "intensiv“.

Auch der beinahe komplette Verzicht auf stereoskopische Film- und Fotoaufnahmen schmerzt, denn der 3D-Effekt hätte Tschernobyl und Umgebung deutlich mehr Räumlichkeit verliehen. Für die Kinoleinwand mag die dreidimensionale Produktionstechnik nur ein nettes Gimmick sein, in der VR-Brille ist sie jedoch essenziell für ein glaubhaftes Ergebnis. Gerade die Qualität der 360-Grad-Videos ist häufig an der Grenze dessen, was man noch akzeptieren mag. Auch der Audiomix ist vereinzelt nicht optimal, beispielsweise übertönt ab und an der O-Ton den Übersetzer. Dafür ist die musikalische Untermalung sehr gelungen.

Losgelöst von den technischen Mängeln ist Chernobyl VR im Kern ein intensives und ambitioniertes VR-Erlebnis, dem es gelingt, die Atmosphäre der Umgebung einzufangen und den Zuschauer damit zu umgeben. Näher kommt man Tschernobyl nur, wenn man den Ort persönlich besucht.

| Featured Image: Studio 51