Ist Virtual Reality wirklich die "ultimative Empathiemaschine"?

Ist Virtual Reality wirklich die

Im Kontext des gesellschaftlichen Nutzens von Virtual Reality wird diskutiert, ob die Technologie mehr Mitgefühl für das Leid anderer Menschen auslösen kann. Sie soll zum Treiber für positive Veränderung werden.

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Im Oktober 2015 stiegen Bundestagsabgeordnete auf ein Schlauchboot in der Spree. Sie sollten am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, Flüchtling zu sein, zusammengepfercht auf engem Raum, um das eigene Leben fürchtend. "Es war beklemmend. Ich habe mich ausgeliefert gefühlt", sagt die Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger nach dem Selbsterfahrungstest.

Eine ähnliche Aktion startete die norwegische Ministerin für Immigration und Integration Sylvi Listhaug, die sich für einige Minuten in einem Schwimmanzug in die Meerenge vor Lesbos warf. Die öffentlichkeits­wirksame Maßnahme diente einerseits der Eigen-PR, entsprach aber gleichfalls dem Wunsch, für ein paar Minuten in die Rolle eines Flüchtlings zu schlüpfen.

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Virtueller Katastrophentourismus oder intensive Anteilnahme?

Überraschend ist die folgende Beobachtung: Den eingangs beschriebenen Aktionen der Politiker wird mit großem Spott und viel Häme begegnet. Milks Ausspruch zur Empathiemaschine wird hingegen kaum kritisch hinterfragt. Im Gegenteil: Produktionen, die sich diesen Empathieeffekt bestmöglich zunutze machen, werden mit Preisen gewürdigt.

Dabei ist die reale Simulation, in einem Schlauchboot auf der Spree zu schaukeln oder dem Wellengang im Meer ausgeliefert zu sein, doch deutlich immersiver, intensiver und empathischer, als sich eine VR-Brille vor die Augen zu halten.

Die gewährt zwar einen Blick aus der Ich-Perspektive und blendete die reale Umgebung aus – ist somit eindrücklicher und suggestiver als ein Video, das auf einer Mattscheibe flimmert – dennoch ist die virtuelle Erfahrung weit vom realen Erleben entfernt. Die Virtual-Reality-Simulation, das unterscheidet sie kaum vom Schlauchboot auf der Spree, gibt allein die äußeren Umstände einer Situation wieder und das nur oberflächlich.

Der Psychologe Paul Bloom von der Yale Universität untersucht, wie Menschen die physische und soziale Welt verstehen und welche Rolle Empathie in einem gesellschaftlichen Kontext spielt. Unabhängig davon, dass er Empathie als Hindernis sieht, wenn es darum geht, Leid zu mindern, bezeichnet er den Versuch, mit Virtual Reality mehr Mitgefühl für Flüchtlinge auslösen zu wollen, als "lächerlich".

"Das Schlimme an einer Flüchtlingserfahrung ist nicht, wie ein Camp aussieht oder wie es klingt; es hat mehr mit der Angst zu tun, dass man aus seiner Heimat flüchten muss und in einem seltsamen Land einen neuen Platz finden muss. [...] Man kann dieses Gefühl nicht nachempfinden, indem man sich einen Helm aufsetzt. Niemand glaubt, dass man Armut besser anerkennen kann, wenn man ohne Geldbörse ins Ghetto geht. Warum sollten die Simulationen das leisten können?"

Bloom beschreibt Sicherheit und Kontrolle als weitere Differenzierungsmerkmale zur Realität. Im Gegensatz zu Menschen, die realem Unglück ausgeliefert sind, kann man eine VR-Erfahrung jederzeit beenden.

Dieser Unterschied könne aus einer eigentlich fürchterlichen eine unterhaltsame Erfahrung machen. "Deshalb spielen wir auch Kriegsspiele", schreibt Bloom. Außerdem lasse sich ein Erlebnis von wenigen Minuten nicht auf Monate und Jahre hochrechnen.

New York Times Virtual-Reality-Reportage

Reaktionen auf Virtual-Reality-Doku der New York Times

Nicht zu viel versprechen

Das Potenzial der Virtual Reality, Menschen in Situationen zu bringen, die sie normalerweise nicht erleben könnten, ist zweifelsohne gegeben. Beim aktuellen Stand der Technologie – wir befinden uns im Mittelalter der VR-Brille – klappt das rudimentär. In Zukunft wird deutlich mehr möglich sein.

Für Medienmacher, die gesellschaftlich relevante Themen adressieren und Politik machen, ergibt sich ethisch und technisch eine komplexe Gemengelage. Zum einen möchte man den Ansprüchen der Verlage und Unternehmen gerecht werden, die in Inhalte investieren und möglichst viele Menschen dazu bringen, in das eigene Werk einzutauchen. Dafür muss man viel versprechen, um aufzufallen, so wie es Chris Milk tut.

Zum anderen stößt man mit der aktuellen Technologie schnell an die Grenzen, die Milk bei seinen Ausführungen nicht beschreibt. Ein 360-Grad-Erlebnis erlaubt zwar einen Blick aus einer ungewohnten Perspektive, aber nicht den kompletten Rollenwechsel. Wer den zum jetzigen Zeitpunkt verspricht, übertreibt.

Redaktionen müssen zudem die Frage beantworten, ob virtuelle Präsenz bei realem Leid und Unglück zumutbar ist. Zumutbar für die Augenzeugen, die diesen Trip auf sich nehmen. Aber noch viel wichtiger: Zumutbar für die Menschen, die von Leid betroffen sind und denen man tausende virtuelle Besucher an den Unglücksort schickt.

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