Warum VR neue Erzählformen braucht
In Before Your Eyes werden Gemälde lebendig und einfaches Umschauen wird zum Storytelling-Geheimtipp. Bitte mehr davon!
Das narrative VR-Adventure Before Your Eyes von GoodbyeWorld Games wird derzeit für seine einfühlsame Umsetzung eines oft verdrängten Themas gefeiert. Auf dem Sterbebett zieht ein ganzes Leben vor den Augen der Spielenden vorbei. Eine Besonderheit ist die Steuerung mit Augenlidern und Kopfbewegungen, ganz ohne Controller.
Ein einfaches Blinzeln lässt neue Bereiche in der gemalten Szenerie erscheinen. Oder es versetzt Spielende an einen anderen Ort, um die nächste Erinnerung zu erleben. Das in der PSVR 2 verbaute Eye-Tracking macht es möglich. Die Mechanik schafft allein schon ein ganz eigenes, intuitives Erlebnis, während Protagonist Benjamin für die Musikakademie büffelt, vor der Konsole daddelt oder sich heimlich aus dem Haus stiehlt.
___STEADY_PAYWALL___Eye-Tracking erweckt Kunstwerke
Ein anderes Detail hat mich aber noch tiefer in das virtuelle Künstler-Drama hineingezogen, als ich es mir hätte vorstellen können. Es geht um die Art und Weise, wie sich Farbkleckse um mich herum ausbreiten. Bei einem Blick zur Seite setzt das "Anzwinkern" eines Symbols ein hypnotisches Schauspiel in Gang. Kurze Zeit später bauen sich aus dem schwarzen Nichts farbenfrohe neue Bildbereiche auf.
Ihre wabernden Ränder sind ein schöner Rahmen, um einen solchen Rückblick in alte Erinnerungen umzusetzen. Die sich ausbreitenden Pinselstriche machen fast alles lebendiger, trotz des schlichten Comic-Stils.
Ein schönes Beispiel ist der Blick in die Sterne am Strand mit Benjamins erstem Schwarm. Aus angepeilten Sternbildern werden hier schnell ausformulierte Gedanken und Wünsche, die sich bis dahin niemand zu äußern traute. Ähnlich eindrucksvoll werden die fiesen Halluzinationen einer schweren Krankheit in Szene gesetzt. Wie ein wucherndes Virus breiten sie sich langsam, aber stetig in immer mehr Ecken des Gesichtsfeldes aus.
Die Möglichkeit, sich frei umzuschauen, um sich in der neuen Realität zurechtzufinden, ist ein unglaublich starkes erzählerisches Mittel! Sie lässt emotionale Momente wie einen romantischen Strandausflug oder eine Beerdigung sogar weniger kitschig erscheinen als in vielen Kinofilmen oder Serien.
Benjamins Gefühlswelt spiegelt sich oft nur dezent in der Umgebung wider und nicht in offen ausgesprochenen Dialogen oder inneren Monologen. Vielleicht fühle ich mich dabei wohler, weil ich mehr Kontrolle über die Situation behalte. Schließlich gebe ich in Before Your Eyes selbst das Tempo vor, in dem ich weitere Erinnerungen einleite.
Narrative Erfahrungen der PSVR 2
Natürlich beherrschen auch klassische Videospiele ein solches Timing, etwa wenn Zwischensequenzen in der Spiele-Engine ablaufen. Doch Virtual Reality hat hier Vorteile: Das große Sichtfeld und die Abschottung von der Außenwelt lassen alles einfach größer, eindrucksvoller und irgendwie auch bedeutungsvoller erscheinen.
Selbst ein Intro im James-Bond-Stil wird in VR zu einem ganz neuen Erlebnis. Das Story-Adventure Dyschronia: Chronos Alternate von MyDearest und IzanagiGames orientiert sich in seinem Vorspann deutlich an den Klassikern der Agentenfilme. Ganz im Stil des Vorbilds haut mir die temporeiche Sequenz alles Mögliche links und rechts um die Ohren - von den Namen der Entwickelnden bis hin zu Pistolen und Torpedos.
Rennende Schemen wie in einem Anime dürfen natürlich auch nicht fehlen, begleitet von entsprechend dramatischem J-Pop-Gesang. Das alles kommt auf dem farbenfrohen OLED-Display der PSVR 2 natürlich besonders gut zur Geltung.
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Sogar so gut, dass ich mir ab sofort für jedes narrative PSVR 2-Spiel einen solchen Vorspann wünsche. Wahrscheinlich ist es die Leuchtkraft, die mein auf Neongrafik getrimmtes ästhetisches Empfinden so gut abholt.
Story-Punk für Quest und SteamVR
Die narrative VR-Erfahrung Battlescar: Punk Was Invented By Girls mit ihren gedeckten Farben konnte mich bei weitem nicht so mitreißen. Dabei brennt auch diese Erfahrung ein wahres Feuerwerk an räumlichen Erzähltricks ab, um die Gedankenwelt der Protagonistin Lupe zu visualisieren.
Sie reichen von raumfüllenden Text- und Bildcollagen bis hin zu gigantischen Händen eines Gegenspielers, der eine Figur gewaltsam in die Luft reißt.
Vermutlich liegt es auch an der teilweise offen destruktiven Punk-Attitüde: In der deprimierend inszenierten New Yorker Szene des Jahres 1978 fehlten mir einfach sympathische Identifikationsfiguren.
Beim Ideenreichtum liegt der vielfach prämierte VR-Film von Atlas V trotzdem ganz weit vorne. Manche von Lupes Gedanken in Battlescar verwandeln sich in riesige Wörter, die wie bei einem Fallschirmsprung an ihr vorbei in die Tiefe fallen.
Selbst ein von Maden durchsetztes Stück Fleisch purzelt in surrealer Art aus einem Schrank an ihr und Spielenden vorbei, bevor es sich wie eine gewölbte modrige Leinwand für die nächste Szene ausbreitet.
Zeit für VR-Erzählformen
Im Zeitalter wachsender Sichtfelder könnten solche Momente noch eindrucksvoller wirken. Und natürlich mithilfe neuer Eye-Tracking-Möglichkeiten wie in Before Your Eyes. Selbst VR-Neulinge und Nichtspieler können so ungestört in fremde Welten abtauchen, ohne von Gedanken über die Controller-Belegung abgelenkt zu werden.
Interessierte können Before Your Eyes übrigens auch ohne die Playstation VR 2 erleben. Bereits vor zwei Jahren erschien eine Flat-Fassung für Steam, die das Zwinkern per Webcam erkennt. Dort hüllt euch die Inszenierung zwar nicht so großflächig ein wie mit Sonys VR-Brille, aber die emotionale Geschichte dürfte auch vor dem Monitor stark auf die Tränendrüse drücken!
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