Avegant Glyph im Test: Was kann die "Entertainment-Brille"?

Avegant Glyph im Test: Was kann die

Ein Produktstart bei Kickstarter kann sich schon mal zwei Jahre hinziehen und dann immer noch nicht fertig sein. Die Videobrille Avegant Glyph hat eine durchwachsene Entwicklungsgeschichte hinter sich, kommt mit reichlich Verspätung und ist noch immer nicht ausgereift. (Test und Bilder von Christophe Leske, VR-Entwickler)

Hersteller Avegant bezeichnet die Glyph-Brille als "Personal Entertainment Headset". Beworben wurde das Gerät als eine neue Produktkategorie, der sogenannten "Mediawear". Die größte Innovation von Avegant Glyph ist eine spezielle Darstellungstechnik namens "Retina Technology", bei der das Bild über Mikrospiegel direkt auf die Netzhaut des Betrachters projiziert wird.

Was lange währt, wird endlich gut?

Avegant sammelte schon im Februar 2014 bei Kickstarter rund 1,5 Millionen US-Dollar für die Glyph-Brille ein und profitierte dabei massiv vom Hype rund um Oculus Rift. Damals kommunizierte das Unternehmen 2015 als geplanten Auslieferungstermin.

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Dieser Ankündigung folgte eine zweijährige Produktentwicklung mit zahlreichen Rückschlägen, zum Teil fehlgeleiteten Prioritäten des Managements sowie einer Menge verärgerter Unterstützer, die ihr Geld aufgrund der immensen Verspätung zurückforderten. Beispielsweise wurde die Brille Anfang 2016 ausführlich auf der CES ausgestellt, anstatt die bereits bezahlten Exemplare zuerst den Unterstützern zu schicken.

Zu allem Überfluss kam es dann noch zu Problemen bei der CE-Zertifizierung für den europäischen Markt. Der Kaufpreis für die Glyph-Brille (499 US-Dollar plus 50 US-Dollar Versand) war da schon seit ungefähr anderthalb Jahren im Besitz von Avegant. Als Ausgleich für die Verspätung bekamen die Unterstützer nun eine spezielle "Founders Edition" mit eigener Wunschgravur, die via Laser auf das Gerät aufgetragen wurde.

Eine Gravur als Wiedergutmachung. Bild: Leske

Eine Gravur als Wiedergutmachung. Bild: Leske

Die wertig verarbeitete und wuchtige Videobrille, die wie ein etwas zu groß geratener Kopfhörer aussieht, erfüllt in der Praxis die Funktionen eines persönlichen Bildschirms. In der frühen Konzeptionsphase des Projekts war der Kopfbügel noch als herunterklappbares Visier geplant, ein Feature, das bei der finalen Version leider nicht mehr vorhanden ist. Der Kopfbügel der Glyph ist starr und muss bewusst so aufgesetzt werden, dass die darin enthaltene Optik vor den Augen liegt.

Virtuelles Retina-Display

Das technische Highlight von Avegant Glyph ist die Retina-Technologie, die trotz des ähnlichen Namens keinen Bezug zu Apple hat. Der Begriff Retina ist bei der Glyph-Brille sogar deutlich angemessener, denn das Bild der Brille wird tatsächlich über ein Micro-Spiegel-Array auf die Netzhaut (die Retina) des Betrachters geleitet. Man schaut somit nicht auf einen Bildschirm, sondern das finale Bild entsteht erst im eigenen Auge. Das ist so, als ob man direkt in einen LED-Projektor blickt. Die Technologie dahinter wird im folgenden Video erklärt.

https://www.youtube.com/watch?v=ANivDWP2pQU

Die Bedienelemente sind direkt am Kopfhörer angebracht

Mit den seitlich angebrachten Touch-Buttons an den Ohrmuscheln kann man die Glyph-Brille bedienen. Die rechte Ohrmuschel bietet dabei Funktionen für die Steuerung der Hardware, beispielsweise kann man ein Testbild zur Kalibrierung der Optik aufrufen oder die Helligkeit des Bildes in drei Schritten justieren. Auch die Lautstärke lässt sich direkt an der Brille einstellen.

An der linken Ohrmuschel kann man zwischen 3D- und 2D-Darstellung wechseln. Der Micro-HDMI-Eingang der Brille liegt ebenfalls an der linken Hörmuschel und erwartet Bildmaterial mit 720p-Auflösung, ansonsten wird automatisch hoch- oder runterskaliert. Ein Adapterkabel von HDMI auf Micro-HDMI ist im Lieferumfang enthalten.

Die Glyph-Brille hat einen Li-Ionen Akku fest verbaut, der über ein Micro-USB-Kabel aufgeladen wird, eine LED zeigt den Ladezustand per Farbcode. Laut Bedienungsanleitung soll der Akku bis zu vier Stunden durchhalten - realistischer sind wohl eher zweieinhalb bis drei Stunden. Leider gibt es im Display keine Darstellung zum Ladezustand, immerhin warnt ein akustisches Signal vor, wenn der Akku zur Neige geht.

Zeitaufwendige Inbetriebnahme: Bis die Brille richtig sitzt, dauert es mindestens fünf Minuten

Will man Videos mit der Glyph anschauen, muss man zunächst die Optik einstellen: Zuerst wird die Höhe mit Hilfe eines austauschbaren und in der Höhe regulierbaren Nasenstücks angepasst. Dann wird die Augenbreite justiert und final wird das Bild mit Hilfe von Drehlinsen fokussiert.

Im Lieferumfang der Videobrille sind mehrere Nasenstücke enthalten, die in das Gerät eingebaut werden können, um die Brille möglichst bequem zu tragen. Damit das Bild genau vor den Augen positioniert ist, kann das Nasenstück mittels einer Schraube rauf- und runtergedreht werden. Da ein Großteil des Gewichts der Brille auf dem Nasenrücken aufliegt, kann es beim längeren Tragen zu Druckstellen kommen.

Auch die interpupillare Distanz, kurz IPD, muss eingestellt werden, bevor das Filmvergnügen startet. Dabei werden die Linsen über zwei Schiebeknöpfe auseinander- oder zusammengeschoben und so der Augenabstand eingestellt. Damit zentriert man das Bild in horizontaler Ebene.

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Zum Abschluss der Kalibrierung muss man das Bild noch scharfstellen. Jedes Auge hat jeweils eine Linse mit einem Drehgewinde, somit kann man die Schärfe pro Auge fokussieren.

Blick durch die Linsen der Glyph-Brille. Ist das Bild erstmal richtig eingestellt, ist die Qualität gut. Bild: Leske

Blick durch die Linsen der Glyph-Brille. Ist das Bild erstmal richtig eingestellt, ist die Qualität gut. Der Weg bis dahin ist aber weit. Bild: Leske

Der gesamte Kalibrierungsvorgang ist, das geht aus meiner Beschreibung hervor, recht kompliziert und kann pro Benutzer gut und gerne fünf Minuten und mehr in Anspruch nehmen. Auch justiert man im Betrieb häufig nach, weil die Einfassungen der Linsen so knapp sind, dass man kaum das ganze Bild in voller Größe fokussieren kann. Immer wieder fehlt entweder Inhalt am linken oder rechten Rand des Bildes oder die Kanten sind verschwommen.

Ist die Optik allerdings endlich richtig eingestellt, überzeugt ein scharfes Bild mit guter Helligkeit und sattem Kontrast. Das in der Brille sichtbare Bild entspricht in etwa einem 40 Zoll großen Display, das man aus zwei Meter Entfernung betrachtet. Damit liegt die Avegant Glyph auf einem Niveau mit vergleichbaren Videobrillen wie der HMZ-T1 von Sony oder der Zeiss Cinemizer.

Einen PC oder Laptop kann man über HDMI anschließen, die Schrift ist scharf und knackig, wenn auch etwas klein, und der Sound wird problemlos über die HDMI-Verbindung übertragen.

3D-Videos sind top, 360-Videos laufen noch nicht

Normale Videos lassen sich gut mit der Glyph anschauen. Richtig interessant wird die Brille aber erst bei 3D-Videos, die im SBS (Side by Side) Modus aufgenommen wurden. Jedes Auge sieht dann ein eigenes Bild, so dass ein stereoskopischer Effekt entsteht. Reale SBS-Videoaufnahmen in hoher Auflösung kommen dabei besser weg als rein am Rechner entworfene 3D-Welten, was an den unterschiedlichen Augenabständen der (virtuellen) Kameras liegen kann.

Da die Glyph-Brille über eingebautes Headtracking verfügt, sollte prinzipiell auch die Darstellung von 360-Videos möglich sein. Im Forum von Avegant häufen sich im Moment jedoch die Beschwerden über das Feature, denn das Headtracking wird im Moment angeblich nur von der JauntVR-App unter iOS und Android unterstützt. Angeblich deshalb, da man die Funktion nicht überprüfen kann, weil die dafür benötigte Bluetooth-Funktion noch nicht funktioniert. Zwar kann man Bluetooth über den Einschaltknopf aktivieren, aber über die kabellose Datenverbindung dann kein externes Gerät andocken. Ein angekündigtes Firmware-Update soll Abhilfe schaffen.

Die Glyph-Brille kann auch als passiver Kopfhörer über eine 3.5mm-Klinke an einen MP3-Player oder Laptop angeschlossen werden, der Akku wird dafür nicht benötigt. Der subjektive Klangeindruck ist aufgrund der großen Ohrmuscheln recht gut, auch laute Außengeräusche werden ausreichend gedämpft. Eine aktive Unterdrückung von Umgebungsgeräuschen ("Noise cancelling") bietet Avegant Glyph aber nicht.

Fazit: Zu spät, aber die Displaytechnologie hat Potenzial

Insgesamt ist Avegant Glyph aufgrund der verbauten Technologie ein interessantes Produkt - aber leider kommt die Brille etwa ein bis zwei Jahre zu spät auf den Markt. Wer ein modernes Head-Mounted Display wie Oculus Rift, HTC Vive oder Gear VR benutzt, will nicht mehr zu kleineren Bildschirmdiagonalen zurückkehren, auch wenn man die Umwelt noch wahrnehmen kann, wenn man die Glyph-Brille trägt. Im Zug oder Flugzeug ist das ein Vorteil.

Ärgerlich sind die gegenüber anderen Entertainment-Brillen technisch noch nicht ausgereiften Alleinstellungsmerkmale wie das Headtracking oder die Bluetooth-Funktion.

Avegant Glyph ist zu klobig, zu teuer und in der Anwendung zu limitiert, um auf dem VR/AR-Markt Fuß fassen zu können. Das wahrscheinlichste Szenario für die Entwickler von Avegant Glyph ist ein Aufkauf durch ein anderes Unternehmen und die Nutzung der Displaytechnologie für neue Endgeräte.


Christophe Leske ist Virtual-Reality-Entwickler mit Sitz in Viersen. Er beschäftigt sich intensiv mit der 3D-Erfassung von Szenen und Personen, um diese in Virtual Reality zu reproduzieren. Er hat außerdem eine Software namens VRVideo entwickelt, eine Demo ist hier verfügbar. Er kann via Email unter info(at)multimedial(dot)de erreicht werden.