Nreal Light im Test: Mehr als eine AR-Brille für Technik-Nerds?
Die Nreal Light ist die erste AR-Brille für Konsumenten mit stylishem Sonnenbrillen-Formfaktor. Aber ist sie auch wirklich nützlich?
Wer wie Apple Virtual Reality immer als unsozial und abschottend begriffen hat, das Potenzial virtueller oder gemischter Realitäten aber trotzdem sieht, setzt auf Augmented Reality. Hier herrscht 2021 ein ähnlicher Hype wie 2016, als die ersten VR-Brillen (Vergleich) auf den Markt kamen. Insbesondere Apples kommende AR-Brille (wenn sie denn kommt) wird als Hoffnungsträger gefeiert: Wer, wenn nicht Apple, kann es schaffen, AR im Sonnenbrillen-Formfaktor auf den Markt zu bringen?
Während Facebook neben seinem VR-Monopol ebenfalls an AR arbeitet, hat das chinesische Start-up Nreal bereits Fakten geschaffen und mit Nreal Light eine AR-Brille für den Konsumentenmarkt gebaut. Kann sie die Erwartungen an Augmented Reality als Zukunftstechnologie jetzt schon erfüllen? Das kläre ich im Test.
Inhalt
Modische Brille, schneller Zuspieler
Der Formfaktor ist gelungen: Die Nreal Light sieht aus wie eine modische Sonnenbrille (abhängig vom eigenen Geschmack, versteht sich) und nur der obere breite schwarze Balken, der Kameras und Linsentechnik beherbergt, verrät die Datenbrille.
Für unterschiedliche Nasen gibt es vier Aufsätze, die die Brille höher oder tiefer aufs Nasenbein setzen. Das ist wichtig, weil die Durchsicht nur im unteren circa 60 Prozent der Brillengläser ausmachenden Bereich möglich ist. Vorn verstärken abgedunkelte Brillengläser den Kontrast des AR-Bildes, hinten wird aus dem oberen Brillenteil auf zwei weitere geneigte Gläser das digitale Bild projiziert.
Die Nreal Light wiegt mit dem im hinteren linken Bügel verbauten USB-C-Kabel 143 Gramm und ist somit relativ leicht. Das Kabel führt zum Smartphone, das die Rechenarbeit übernimmt.
Derzeit ist nur das rund 1.100 Euro teure Oppo Find X3 Pro mit der Nreal Light kompatibel. Weitere Smartphones sollen folgen. Die Nreal Light selbst kostet 799 Euro bei der Telekom, bei Vodafone gibt es Smartphone und AR-Brille mit 24-Monatsvertrag für rund 250 Euro.
Ordentliche Bedienung, mäßiges Sichtfeld
Schließe ich die Nreal-Light an das Smartphone an, startet automatisch die Nebula-App, sozusagen das Betriebssystem der AR-Brille. Im standardmäßigen Mixed Reality-Modus bekomme ich eine knappe Einweisung, wie ich neue Apps hinzufüge und virtuelle Displays im Raum platziere. Die Skalierung der App-Fenster muss ich mir hingegen selbst beibringen. Hinweise zu optimalen Lichtverhältnissen gibt es nicht.
Ich bediene Nebula über das Smartphone, das als Laserpointer dient und dessen Display zum Touchpad wird, auf dem ich mit dem Daumen wische. So organisiere ich im Menü Apps in Gruppen oder mache Eingaben über die Smartphone-Tastatur. Letzteres funktioniert dank der transparenten Brillengläser gut. Allerdings wäre richtiges Handtracking deutlich intuitiver. Das soll mit einem Update später nachgeliefert werden.
Öffne ich eine App, kann ich sie im Raum platzieren, etwa über oder neben meinen realen Monitoren. Die zusätzliche Anzeige, beispielsweise mein E-Mail-Programm, lässt sich heran- oder herauszoomen.
Allerdings macht das eingeschränkte Sichtfeld (laut Nreal ca. 52 Grad) einen Strich durch die Produktivitätsrechnung: Ist das virtuelle Display groß genug, dass ich es bequem nutzen könnte, passt die Outlook-App nicht mehr komplett ins Sichtfeld. Das gilt auch für Chat-Programme, die ich näher heranhole: Auf etwas mehr als Armlänge ist der Ausschnitt zwar gut lesbar, aber die Übersicht geht verloren, weil das Bild beschnitten wird.
Sattes Bild und eigentlich clevere Sehstärke-Linsen-Lösung
Bild und Farben sind scharf und überraschend satt. Ein Youtube-Video anzuschauen, macht Freude, solange die Sichtfeldbeschränkung nicht dazwischenfunkt. Will ich etwa bei einem Let‘s Play Spieltexte lesen, muss ich das App-Fenster zoomen: Obwohl das Bild erstaunlich scharf wirkt, ist Text in einem App-Fenster, das genau ins Sichtfeld passt, schwer zu lesen.
Möglicherweise hat das etwas mit den Sehstärkelinsen zu tun, die ich als Brillenträger nutze. Clevere Lens Frames, die magnetisch an die hintere Seite der Brille geklippt werden, ermöglichen die Verwendung von Korrekturlinsen. Was eine Top-Idee ist und grundsätzlich gut funktioniert, kann aber Unschärfe ins Bild bringen, weil Abstand und Ausrichtung der Lens Frames sich nicht anpassen lassen.
Das Tracking der Nreal Light funktioniert unter den richtigen Lichtverhältnissen gut bis sehr gut. Der Laserpointer arbeitet meistens präzise. Die virtuellen Displays bleiben in der Regel an Ort und Stelle, selbst bei ruckartigen Kopfbewegungen. Hin und wieder wandern die App-Fenster allerdings etwas mit, wenn ich den Kopf drehe. Einen Grund konnte ich dafür nicht ausmachen.
Nreal Light ist sehr lichtempfindlich
Die Nreal Light hat durch das optische Tracking große Probleme mit hellem Tageslicht, Gegenlicht durch Monitore und weißen Wänden. Im Test kämpfte ich oft mit Komplettabstürzen: Sobald der Hintergrund oder die Umgebung zu hell ist, friert das Bild ein.
Ich muss entweder das Kabel ziehen oder in den Mirror Mode (spiegelt das Smartphone-Display) und zurück wechseln. Allerdings sollten Trackingfehler nicht zum Absturz führen – hier muss Nreal dringend nachbessern.
Die Leistung ist – wenn keine Tracking-Probleme auftreten – hervorragend. Das mit Full HD pro Auge (1920 x 1080 Pixel) aufgelöste Bild ist flüssig und auch bei schnelleren Drehungen mit virtuellem Display am Pointer gibt es an der Leistung nichts auszusetzen. Das starke Smartphone hat daran sicherlich einen signifikanten Anteil. Es bleibt abzuwarten, ob es auch auf schwächeren Geräten gut funktioniert.
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Zeitlich begrenzter Tragekomfort
Wenn einer der Nasenbeinaufsätze passt, ist das Tragegefühl relativ gut. Da ich das Tragen einer Brille gewohnt bin, habe ich einen Vorteil. Trotzdem ist die Nreal Light keine Alltagsbrille, die ich mehrere Stunden tragen kann (Ausnahme: beim Film- oder Serienkonsum mit angelehntem Kopf).
Die Ränder der Lens Frames, aber auch der untere Rand der AR-Brille, ziehen einen schwarzen Rand durch mein Blickfeld, während gleichzeitig der schwarze, große obere Brillenpart den oberen Sichtbereich komplett versperrt. Ich schaue knapp unter einem fetten schwarzen Balken hindurch und erkaufe mir so ein eingeschränktes, virtuell augmentiertes Sichtfeld durch signifikante Einschränkung des realen Blickfelds.
Zusätzlich spiegeln die geneigten inneren Brillengläser, was das Sichtfeld weiter einschränkt oder zumindest stört. Auch die Brillenbügel sind zu dick, um auf Dauer getragen zu werden. Sie drücken meine Ohren leicht herunter, was mit zunehmender Tragedauer unangenehm ist. Durch das Gewicht rutscht sie immer wieder etwas, vor allem, wenn ich nach unten schaue. Dem kann ich über ein am Hinterkopf entlang geführtes Brillenband entgegenwirken, das an beiden Bügeln befestigt wird.
Bei längerer Nutzung wird die Nreal Light warm. Wenn die AR-Brille – wie bei mir – im Bereich der Augenbrauen dicht am Kopf anliegt, ist das auf Dauer unkomfortabel.
Nreal Light: Gute Videobrille, aber für Produktiv-Anwendungen nur Demo-Gerät
Hat Virtual Reality immer schon das Problem mangelnder Inhalte gehabt, so gibt es für die Nreal Light fast keine MR-Apps, die funktionieren. Nreal Tower beispielsweise, das hauseigene AR-Spiel, taucht nach der Installation nicht einmal in den Nebula-Apps auf. Starte ich es über das Smartphone, soll ich einen Marker scannen, der nie erscheint - oder dessen analoges Pendant mir fehlt.
AR-Apps aus dem Google PlayStore funktionieren nur selten. Knightfall AR zeigt mir etwa nur die Smartphone-Kameradurchsicht. Es fehlen also großflächig kompatible Apps.
Selbst die Telekom-App Magenta VR funktioniert noch nicht mit der Nreal Light: Nach Auswahl des „Headset“-Modus bleibt alles schwarz und ich muss Nebula neu starten. Ich hätte erwartet, dass wenigstens die Partner-Apps funktionieren.
Für einen VR-Enthusiasten ist der 3D-Effekt zudem keine positive Überraschung mehr – ich suche hier eher nach einem sinnvollen Nutzen. Der liegt derzeit nicht in AR-Spielen. Viel interessanter sind Produktiv-Apps vom Smartphone, etwa E-Mail, Chats, Internetbrowser oder Film und Streaming, beispielsweise Netflix oder Youtube.
Vor allem Videos und Filme lassen sich mit dem VR-Cover, dass ich vorn auf die Brille klippe, einwandfrei konsumieren. Zu diesem Zweck schalte ich vom Mixed Reality Mode in den Mirror Mode und schaue meine Netflix-Serien auf einem großen virtuellen Bildschirm.
Für den Filmspaß zu Hause ist die virtuelle Leinwand nicht groß genug, sie entspricht geschätzt einem 60 bis 70 Zoll-Fernseher. Auf Reisen ist die Nreal Light aber eine echte Alternative, da man die Umgebung weiterhin wahrnimmt und einen deutlich größeren Bildschirm zur Verfügung hat, als Smartphone oder Tablet normalerweise hergeben. Kopfhörer sind nicht nur aus Rücksicht auf andere Mitreisende Pflicht, denn die in die Brillenbügel eingebauten Lautsprecher erfüllen nur den Minimalanspruch.
Test-Fazit zur Nreal Light: Für reisende Film-Fans und Tech-Nerds
Die Nreal Light ist ein cooles Tech-Produkt, das aus meiner Sicht eine Art Machbarkeitsstudie darstellt: Sind AR-Brillen mit einem schmalen Formfaktor möglich? Die Antwort lautet: Ja, ganz offensichtlich.
Zwar ist AR noch ein gutes Stück entfernt von einem Formfaktor und Sichtfeld, das wirklich Bildschirme ersetzt und stundenlang getragen werden kann. Aber die Nreal Light zeigt bereits in die richtige Richtung: Die coole AR-Brillen-Vision lässt sich erstmals im eigenen Wohnzimmer demonstrieren.
Als Produktiv-Tool taugt Nreal Light allerdings derzeit nur bedingt bis gar nicht. Dazu ist die Brille zu lichtempfindlich, die Bedienung durch fehlendes Handtracking nicht intuitiv genug und das Sichtfeld in jeder Hinsicht – real und virtuell – zu eingeschränkt.
Wenn es kaum Spiele gibt und Produktiv-Apps nur bedingt etwas nützen, was mache ich dann mit der Nreal Light? Filme und Videos im Mirror Modus gucken! Als Videobrille ist die Nreal Light gut geeignet, vor allem, wenn man unterwegs ist. Verschiebbare virtuelle Displays und die Nutzung mehrerer Apps sind dabei allerdings nicht möglich - sehr schade.
Nreal Light ist für die erste AR-Brille dieser Art ganz ordentlich gelungen. Wenn ich aber den Preis neben all die vielen kleinen und großen Kompromisse halte, die ich bei der Benutzung eingehen muss, lautet das Fazit: Nreal Light ist nur was für finanzkräftige Leute, die viel reisen und dabei Filme oder Serien lieber mit Brille statt Tablet schauen wollen sowie für absolute Technik-Nerds. Aber sie ist ein erster ordentlicher Schritt auf dem Weg zu wirklich sinnvoller Augmented Reality.
Nreal Light ist für euch geeignet, wenn ...
- ihr auf technische Visionen, Prototypen und Erstlinge steht,
- eine gute Videobrille für unterwegs haben wollt,
- das Potenzial von AR erstmals Freunden & Familie demonstrieren wollt und
- euch Brille und spezielles Smartphone leisten könnt.
Nreal Light ist eher nicht für euch geeignet, wenn ...
- ihr eine AR-Brille mit richtig gutem Tragekomfort und Sichtfeld sucht,
- die Nreal Light als Monitorersatz gebrauchen möchtet,
- sinnvolle AR-Anwendungen dafür sucht und
- keinen vierstelligen Betrag für Brille und Smartphone löhnen wollt.
Nreal Light Datenblatt
Display | 1080p Auflösung pro Auge Helligkeit bis zu 1.000 Nits |
Sichtfeldweite | 52 Grad |
Freiheitsgrade (DoF) | AR-Brille: 6 DoF Laserpointer (Smartphone): 3 DoF |
Kameras | 2 Spatial-Computing-Kameras, Foto/HD-Video-RGB-Kamera |
Sensoren | Beschleunigungsmesser, Gyroskop, Umgebungslicht-Sensor, Näherungssensor |
Audio / Mikrofon | Duale Lautsprecher und Mikrofone |
Gewicht | AR-Brille (mit Kabel): 143 Gramm |
Verbindung | USB-C zu Smartphone |
Smartphone | Oppo Find X3 Pro |
Batterielaufzeit (Smartphone) | Circa zwei Stunden im MR-Modus, im Mirror Modus länger |
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