Die Erfindung des Bekannten: „Damokles-Headsight-View“
Die Nutzung von Kameras zur Anzeige in einem Headset ist bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert Stand der Technik. Ist ein Kamera-Monitor-System als AR-Brille noch eine zeitgemäße Idee?
Autor: Armin Grasnick
AR-Brillen sind Geräte zur Erweiterung der Realität, die reale Umgebungen mit virtuellen Elementen anreichern. Seit Ivan Sutherlands „Sword of Damocles“ (Sutherland, 1968) basierten solche Systeme auf dem Prinzip der Überlagerung des Realen mit dem Virtuellen.
Ein vom Computer erzeugtes Objekt wird optisch in das Sichtfeld der Betrachtenden eingebracht und in die Umgebung eingeblendet. Ein starkes Gefühl der Telepräsenz in entfernten oder virtuellen Welten stellt sich aber immer nur dann ein, wenn der Seheindruck der Kopfbewegung folgt und dabei die lokale Sicht verdeckt wird. Es ist naheliegend, die Kopfposition mit der Steuerung von stereoskopischen Kameras zu verbinden, um einen möglichst realistischen Seheindruck zu gewinnen.
1960er Headsight Television
Das innovative US-amerikanische Unternehmen Philco war seit den 1950er-Jahren ein Hersteller von Radios und Fernsehern. Eines dieser portablen Fernsehgeräte wurde Anfang der 1960er-Jahre von zwei Philco-Forschern in einem Video-Headset verbaut. Durch Bewegung des Kopfes wurde eine entfernte Kamera gesteuert, deren Bild auf die Bildröhre übertragen und in die Beobachtersicht eingespielt. Das nachfolgende Bild zeigt den Philco-Forscher Charles Comeau mit einem solchen Headset.
Die „Headsight“ war zwar eher eine wenig elegante Helmbrille, aber dennoch ein wegweisender, funktionstüchtiger und vor allem inspirierender Prototyp.
1990er NASA View-Headset
Mit derartigen Systemen wurde seit dem Ende der 1980er-Jahre zum Beispiel im Virtual Environment Workstation Project (VIEW) experimentiert (Bolas & Fisher, 1990). Das View-Headset der NASA von 1992 kommt dem Design einer aktuellen VR-Brille schon recht nahe.
Mit diesem System konnte nicht nur eine stereoskopische Kamera ferngesteuert, sondern auch wahlweise die reale 3D-Szene oder eine virtuelle Umgebung dargestellt werden. Das Bild zeigt die volle Ausbaustufe mit 3D-Sound und Handschuhen zur realen Interaktion mit der telepräsenten Welt.
One more thing
Der Weg von dem, was seit Jahrzehnten immer wieder prototypisch präsentiert wurde, zu einem endnutzertauglichen Gerät hat sich als langwierig erwiesen. Erst mit der Vorstellung der Oculus-VR-Brille 2012 und deren Fokussierung auf VR-Inhalte gelang der Einstieg in den Verbrauchermarkt. Gleichzeitig erfolgte eine stärkere Aufteilung der Technik in die Bereiche Augmented und Virtual Reality mit den jeweiligen Headsets und entsprechenden Vorzügen und Problemen.
Ein offensichtlicher Nachteil einer VR-Brille ist die fehlende Sicht auf die reale Umgebung, was zu einer mitunter unerwünschten und bei Bewegung potenziell gefährlichen Abschottung von der Außenwelt führt. Eine AR-Brille erlaubt die direkte Sicht auf die reale Welt, kann dafür aber keine opaken Objekte darstellen. Ein reales Objekt kann nur mit Licht verdeckt werden.
Um die geisterhaften AR-Darstellungen zu verbessern und die VR-Sicht auf die Umgebung zu ermöglichen, werden wieder Kameras verwendet. Es ist offensichtlich und unmittelbar einleuchtend, dass die Einblendung der äußeren Kamerasicht zur scheinbaren Durchsicht des Displays führt und nur über das Videosignal erfolgen kann. Die Bezeichnung „Video-see-through“ ist demzufolge glatt beschreibend und ebenso unnötig wie der Begriff „Optical see-through“. Das ist in etwa so, als wenn das Barfußlaufen als „Haptical-feel-through“ und das Tragen eines Schuhes als „Protected-feel-through“ bezeichnet würde, nur um zu vermeiden, dass uncoole Begriffe wie „barfuß“ oder „Schuh“ verwendet werden.
Praktisch gesehen handelt es sich bei allen „Video-Passthrough“-Techniken um Systeme, die Bilder mit Kameras aufnehmen und auf Monitoren darstellen. Das ist unabhängig vom Hersteller und für Meta, HTC, Varjo oder Apple identisch. Um die Vorarbeiten der Jahrzehnte zu würdigen, könnten wir versucht sein, neue VR/AR-Headsets mit äußeren Kameras „Damokles-Headsight-View“ (DHV) oder „Comeau-Sutherland-Fisher“ (CSF) zu benennen, aber der Einfachheit halber bleiben wir für den Anteil „Video-Passthrough“ bei der klaren Bezeichnung „Kamera-Monitor-System“ (KMS).
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Eine VR-Brille als Kamera-Monitor-System
Warum ist aber eine VR-Brille mit der Möglichkeit der Durchschaltung der Außensicht eine gute Idee? Der klassische Vorteil der Telepräsenz wird derzeit zwar kaum genutzt, da die steuerbaren Stereo-Kameras der Gegenstelle gegenüber den VR-Headsets deutlich unterrepräsentiert sind. Aber, diese Möglichkeit kann in professionellen Anwendungen aus Gründen der Sicherheit des Personals und zur Vermeidung realer Besuche unerfreulicher Umgebungen wieder aktuell werden.
Ein deutlich breiter angelegter Vorteil ist die hochqualitative Möglichkeit der Überblendung der Außenwelt ohne Ghosting. Das wird zu wirksamer Präsenz der virtuellen Anteile führen und kann das Gefühl der Vermischung von realer und virtueller Welt verstärken.
Ein KMS einer VR-Brille besteht aus den maßgeblichen Komponenten Objektiv, Kamerasensor, Computer, Display und Okular. Jede einzelne Komponente hat Einfluss auf die Abbildung der realen Szene und trägt Latenzen in das System ein.
Es wäre nun wünschenswert einen Vergleichsmaßstab für die Qualität der Abbildung eines KMS unabhängig von der Definition eines Herstellers zu haben. Hier kommt uns die klassische Optik zu Hilfe, die eine Reihe von Abbildungsfehlern (Aberrationen) kennt. Diese können objektiv bestimmt werden und so der Vergleichbarkeit der verschiedenen Systeme dienen. Das kann ganz einfach durch die Aufnahme verschiedener Testbilder direkt durch die Okulare der Brille mittels einer hochauflösenden Kamera durchgeführt werden.
KMS-Übertragungsfunktion
Prinzipiell kann die Veränderung eines Eingangssignals beim Systemdurchgang durch eine Übertragungsfunktion bestimmt werden, die sowohl zeit- als auch ortsabhängig ist. Die Übertragungsfunktion wäre dann die Blackbox-Funktion, die zu dem gemessenen Ausgangssignal bei bekanntem Eingangssignal geführt hat.
Die Prüfung der optischen Übertragung funktioniert sehr gut mit geeigneten Prüfbildern, wie sie aus der Kameraprüfung bekannt sind. Es ist nicht notwendig, sich dazu eigene Tests auszudenken, hier finden sich geeignete Normen für andere Prüffälle. Interessant erscheint hier vor allem die europäische Norm ISO 16505, die eigentlich für den Ersatz von Außenspiegeln bei Straßenfahrzeugen erstellt wurde. Das Bestehen einer Prüfung nach dieser Norm ist notwendig, um für ein Kamera-Monitor-System in einem Fahrzeug eine Straßenzulassung zu erhalten. Das sollte dann sicher ausreichend sein, um ein minder gefährliches Gerät wie eine AR/VR-Brille für die Anwendung zu qualifizieren.
Fällt das Schwert?
Die Nutzung von Kameras in einer XR-Brille bringt tatsächliche Vorteile in Bezug auf die Qualität der Darstellung. Das gilt besonders dann, wenn eine VR-Brille zur AR-Darstellung genutzt wird. Es ist aber möglich, dass dieser theoretische Qualitätsgewinn durch Abbildungsfehler bei Aufnahme und Wiedergabe wieder gemindert wird.
Apples Vision Pro darf mit Recht als Kamera-Monitor-System bezeichnet werden und muss sich in Zukunft gefallen lassen, auch als solches vermessen zu werden. Das Damokles-Schwert einer möglichen Ablehnung durch den Markt hängt auch über Apple. Eine objektive Messung wird daran nichts ändern, allerdings kann die Bestimmung der Übertragungsfunktion zu einer größeren Vergleichbarkeit führen und eine Hilfe für die Anwenderinnen und Anwender bei der Auswahl eines Headsets darstellen.
Die wirkliche Qualität kann nur an einem realen Gerät bewertet werden. Solange die Vision Pro aber nicht vermessen wurde, nehmen wir das Schwert noch nicht ab. Die Realität wird zeigen, ob die Damokles-Headsight-Brille sich tatsächlich den Namen Vision-Pro verdient hat.
Armin Grasnick ist Professor für Augmented & Virtual Reality an der IU International University. Er arbeitet seit den 1990er-Jahren an VR, mit und ohne Brille.
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