Inside Auschwitz: "Es geht darum, das Leiden in die heutige Zeit zu übersetzen"
In München findet am 6. April die Fachkonferenz "i4c - Spring into 360°" statt, die sich an Filmemacher, Journalisten und Kreative richtet, die 360-Grad-Inhalte produzieren. Unter den Referenten ist auch Dorothee Pitz, die für den WDR die weltweit erste 360-Grad-Dokumentation über Auschwitz produzierte. Im VRODO-Interview schildert die Journalistin, worin für sie die besondere Kraft des Mediums besteht und was sie mit "Inside Auschwitz" bei den Zuschauern erreichen möchte.
VRODO: Hallo Frau Pitz. Können Sie sich unseren Lesern vorstellen?
Dorothee Pitz: Ich bin Redakteurin von "Hier und heute" beim Westdeutschen Rundfunk. Meine Redaktion versteht sich als Entwicklungslabor für innovative Netzprojekte. Wir fördern die selbstbestimmte Nutzung von Inhalten und entwickeln dafür neue Tools und Formate. Unser Schwerpunkt liegt dabei auf der Entwicklung von VR-Projekten mit dokumentarischem Kern.
___STEADY_PAYWALL___VRODO: Wie kam es dazu, dass Sie eine 360-Grad-Dokumentation über Auschwitz drehten?
Dorothee Pitz: Wir wollten das, was an Schrecklichem in Auschwitz geschehen ist, das Leiden der Menschen, die Monstrosität des Lagers mit Hilfe der 360-Grad-Technologie "spürbar" machen. Nicht nur in Deutschland, weltweit gibt es so viel Angst und Intoleranz, dass es mehr als dringlich erschien, auch 72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ein Zeichen zu setzen. Die Diskussion um das Holocaust-Denkmal in Berlin im Januar, kurz vor der Veröffentlichung des Films, hat uns noch einmal darin bestärkt, an das Menschheitsverbrechen der Nazis zu erinnern.
[blockquote cite="Dorothee Pitz"]360-Grad-Filme sind für mich eine neue Möglichkeit, Wirklichkeit im Erleben und Fühlen zu verstehen und zu durchdringen. Statt Distanz erleben die Nutzer Intensität, Verbundenheit und Nähe.[/blockquote]VRODO: Sie produzieren schon länger 360-Grad-Filme. Worin unterscheidet sich Inside Auschwitz von ihren früheren 360-Grad-Dokumentationen?
Dorothee Pitz: Wir haben erst vor etwa einem Jahr angefangen, Filme in 360-Grad zu produzieren. Dabei haben wir uns auf den Nachrichtenbereich und auf Reportagen konzentriert. Inside Auschwitz hat eine ganz andere Bedeutung für uns. Wir haben versucht, unsere dokumentarische Stärke mit einer Technologie zu verschmelzen, die durch das Erleben und Erzählen im Raum ein tieferes Verständnis ermöglichen sollte.
VRODO: Regisseure müssen beim Drehen von 360-Grad-Filmen vorsichtiger vorgehen als bei herkömmlichen Filmen, da Kamarafahrten und schnelle Schnitte schnell desorientierend wirken. Empfinden Sie diesen Umstand als Einschränkung?
Dorothee Pitz: Ich würde das nicht als Einschränkung bezeichnen, sondern als notwendige Umstellung, als Herausforderung. Die Kriterien sind einfach andere. Man kann althergebrachte Filmkonzepte nicht auf einen 360-Grad-Film übertragen, und natürlich auch nicht die Arbeitsweisen. Man erzählt anders und mit anderen Mitteln.
[blockquote cite="Dorothee Pitz"]Mit Inside Auschwitz setzen wir die persönlichen Geschichten der drei Zeitzeuginnen in Zusammenhang mit den gewaltigen Dimensionen des Vernichtungslagers.[/blockquote]VRODO: Welche Funktion haben 360-Grad-Filme für Sie? Sehen Sie sie als ein Erzählmedium? Oder sind sie ein Mittel, die Wirklichkeit abzubilden?
Dorothee Pitz: Ich sehe darin kein „entweder – oder“. 360-Grad-Filme sind für mich eine neue Möglichkeit, Wirklichkeit im Erleben und Fühlen zu verstehen und zu durchdringen. Und eine Chance, aus passivem Konsum ein aktives Erschließen sozialer, politischer, kultureller Zusammenhänge zu ermöglichen. Statt Distanz erleben die Nutzer Intensität, Verbundenheit und Nähe.
VRODO: Unter Intellektuellen wird bis heute diskutiert, ob und wie man über Auschwitz berichten kann, ohne die darin stattgefundenen Verbrechen zu verharmlosen. Was kann für Sie ein 360-Grad-Film von Auschwitz vermitteln und was nicht?
Dorothee Pitz: Mit Inside Auschwitz setzen wir die persönlichen Geschichten der drei Zeitzeuginnen Anita Laser-Wallfisch, Philomena Franz und Walentyna Nikodem in Zusammenhang mit den gewaltigen Dimensionen des Vernichtungslagers. Der Nutzer ist nicht mehr nur Zuschauer. Er kann sich, geführt von den Erzählungen der drei Frauen, die Auschwitz überlebt haben, umschauen und seine eigene Perspektive wählen.
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Auf eine eindringliche und unmittelbare Weise können die Nutzer dabei die Schilderungen der Zeitzeuginnen nachempfinden. Wir haben erlebt, das manche die VR-Brille abgesetzt und geweint haben. Inside Auschwitz hat eine ganz besondere Qualität, weil man den Ort erlebt und weil das Erleben verbunden ist mit der Perspektive der erzählenden Frauen.
VRODO: Was möchten Sie mit Inside Auschwitz beim Zuschauer erreichen?
Dorothee Pitz: Gerade die junge, netzaffine Generation kann man mit dieser neuen Erzählform besser erreichen. Im Kern geht es darum, die Erfahrungen und Leiden der über 90-jährigen Frauen in die Gegenwart zu übersetzen und die Authentizität des Geschehenen für eine Generation erlebbar zu machen, die Medien anders konsumiert, aber erreicht werden kann und muss.
Hier geht es um die eigene Herkunft, die Geschichte der Eltern, der Großeltern. Nach der Fertigstellung des Projekts war uns klar, dass Inside Auschwitz auch für alle anderen Altersgruppen eine wichtige Erfahrung sein würde. Und man darf auch diejenigen nicht vergessen, die keine Möglichkeit haben, selbst nach Auschwitz zu reisen. Mit unserem Film wird ihnen diese wichtige Erfahrung ermöglicht.
[blockquote cite="Dorothee Pitz"]360-Grad-Filme sind mehr als ein Panoramablick. Sie können die Perspektive eines anderen Menschen fühlbar machen. Wenn es gelingt, den Punkt der Berührung zu erschließen und das Eintauchen in andere Welt zu ermöglichen, dann ist es egal, ob ich dabei eine VR-Brille trage.[/blockquote]VRODO: Der Filmemacher Chris Milk bezeichnete Virtual Reality als „ultimative Empathiemaschine“, weil sie uns die Welt aus der Perspektive anderer Menschen sehen lässt. Es gibt Stimmen, die Milks These kritisch sehen und geltend machen, dass eine menschliche Perspektive sich nicht auf den optischen Blickpunkt reduzieren lässt. Dazu bedürfe es weitaus mehr. Wie stehen Sie zu Milks These?
Dorothee Pitz: Es geht bei Virtual Reality gerade nicht darum, "optische Blickpunkte" zu setzen, sondern darum, einen erzählerischen Raum zu schaffen, der Empfindungen zulässt. Es reicht nicht, eine Drohne mit einer 360-Grad-Kamera aufsteigen zu lassen oder das Kamera-Rig irgendwohin zu stellen. Das ist nicht mehr als ein Panoramablick.
Es geht darum, die Perspektive eines anderen Menschen fühlbar zu machen. Das zu entwickeln, ist die dokumentarische Kunst. Wie schaffe ich es, Intensitäten leuchten zu lassen, die Magie der Geschichte zu entfalten. Wenn es gelingt, den Punkt der Berührung zu erschließen und das Eintauchen in andere Welt zu ermöglichen, dann ist es egal, ob ich dabei eine VR-Brille trage.
Dieses Interview wurde zwecks besserem Verständnis leicht angepasst und gekürzt. Mehr Informationen zur Fachkonferenz, das vollständige Programm und die Möglichkeit, ein Ticket zu ordern, gibt es auf der offiziellen Webseite.
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