Virtual Reality anno 1860: Das Stereoskop und seine "Teufeleien"
Die Geschichte immersiver Technologien reicht weit zurück. Ein Beispiel hierfür ist das "Stereoskop", ein Urahne heutiger VR-Brillen, das 1838 erfunden und ab den 50er-Jahren in ganz Europa äußerst populär wurde. Die vermutlich hochwertigste und erfolgreichste Fotoserie, die für das Stereoskop hergestellt wurde, sind die "Diableries". Sie machen deutlich, wie fasziniert die Menschen schon damals von einer Technologie waren, die es dem Betrachter erlaubte, für Augenblicke in eine andere Welt einzutauchen.
Das Stereoskop lässt zwei im Augenabstand geschossene Fotografien zu einer dreidimensional anmutenden Szene verschmelzen, wenn man durch die beiden Linsen der Vorrichtung blickt. Während die meisten Stereokarten Fotografien waren, die die reale Welt zeigen, wollten François Benjamin Lamiche and Adolphe Block etwas ganz Besonders schaffen: Sie ließen von Künstlern eine Vielzahl Tonfiguren formen und ordneten sie in detailliert ausgearbeitete Dioramen zu Szenen an, die sie anschließend mit Zweiobjektiv-Kameras abfotografierten.
Die Serie hörte auf den Namen "Diableries ou Un voyage dans l'autre monde" (zu Deutsch etwa: Teufeleien oder Eine Reise in eine andere Welt) und wurden zwischen 1860 und 1895 in Paris hergestellt. Die insgesamt 182 Stereokarten stellen Szenen aus einer bizarren Parallelwelt und Hölle dar, die von Skeletten, Teufeln und Satyren bevölkert sind.
___STEADY_PAYWALL___Die Stereokarte mit der Seriennummer 64 zeigt zum Beispiel den Eingang zur Hölle, der mit Dantes berühmten Worten überschrieben ist: "Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren." Daneben ist in den Fels ein Raum eingelassen, aus dem ein Kerberus blickt, der dreiköpfige Höllenhund aus der griechischen Mythologie, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Über ihm steht für Neuankömmlinge geschrieben: "Wenden Sie sich an den Concierge".
Die Stereokarte Nummer 58 trägt den Titel "Regatta in Satanstadt" und zeigt eine Vielzahl von Skeletten, die auf dem Totenfluss Styx in Booten um die Wette rudern, während eine weitere Gruppe oberhalb auf einer wackligen Holzkonstruktion steht und das Geschehen beobachtet. Einige davon tragen Blasinstrumente bei sich und musizieren.
Die Stereokarte mit der Seriennummer 63 zeigt das Privatzimmer von "Madame Satan". Die schöne Teufelin sitzt in einem eleganten Kleid auf einem breiten Sessel, während eines der Skelette kniend um ihre Gunst buhlt und zwei weitere von außen durch das Fenster hinein spähen. Madame Satan blickt derweil in einen großen Spiegel - ein christliches Motiv, das für Eitelkeit und die Vergänglichkeit alles Irdischen steht.
Um die Bilder noch lebensechter wirken zu lassen, kolorierten die beiden Herausgeber die Fotografien mit Wasserfarben nach. Außerdem stachen sie durch die Rückseite der Karten mit Nadeln Löcher in die Augen der Figuren und trugen an diesen Stellen etwas rote Gelatine auf. Hielt man das Stereoskop gegen das Kerzenlicht, so schien es, als würden die Bilder lebendig werden und die Augen der dämonischen Figuren rot funkeln.
In Frankreich begeisterte man sich zu dieser Zeit für Themen, die mit dem Teufel und der Hölle zu tun haben. Doch die Diableries gehen tiefer: Sie sind Satire, die auf fantasievolle Weise die politischen Verhältnisse unter Napoleon III., das ausschweifende Leben des französischen Großbürgertums und die Kriegsgräuel anprangert.
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Die Swann Auction Galleries versteigern derzeit elf unterschiedliche Stereokarten für 600 bis 900 US-Dollar. Wer sich für die Diableries interessiert, kann ein Buch erwerben, das Abbildungen von 24 Stereokarten samt Viewer enthält. Alternativ gibt es auch eine App für Android and iOS, mit der man die sich die Stereokarten in hoher Auflösung anschauen kann.
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