VR-Experiment zeigt: Moralisch denken ist nicht gleich moralisch handeln

VR-Experiment zeigt: Moralisch denken ist nicht gleich moralisch handeln

Als der deutsche Philosoph Max Scheler von seinen Studenten gefragt wurde, wie er Bordellbesuche mit seiner Ethik vereinbaren könne, soll dieser gesagt haben: "Der Wegweiser geht auch nicht den Weg, den er weist." Wie schnell sind Menschen dazu bereit, ihre theoretischen Moralvorstellungen anzupassen, wenn sie mit der (virtuellen) Realität konfrontiert werden? Ziemlich schnell, haben Forscher in einem Experiment herausgefunden, in dem sie Probanden eines der größten philosophischen Moraldilemmas in der VR-Brille zeigten.

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Das Trolley- oder auch Fetter-Mann-Problem ist in der Philosophie und Psychologie ein seit Jahrzehnten diskutiertes moralisches Phänomen. Gegeben ist die folgende Situation: Eine Straßenbahn fährt auf eine Gruppe von fünf Arbeitern zu und droht, diese zu überrollen. Als Zuschauer kann man dieses Unheil verhindern, indem man ein anderes herbeiführt: Man schubst einen dicken Mann von einer Brücke auf die Gleise und stoppt so die Straßenbahn.

Aus Perspektive der Forscher ist in solch einem moralischen Dilemma die Nützlichkeitserwägung interessant: Opfert man das Leben eines Menschen, um das von fünf anderen zu retten? Psychologen an der Universität von Plymouth stellten das Trolley-Problem in der virtuellen Realität nach. Anschließend testeten sie die Entscheidungen von 40 Probanden, 35 davon weiblich und fünf männlich.

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Je 20 Teilnehmer wurden in jeweils einer von zwei Situationen geprüft: In einer virtuellen Umgebung sollten sie die Tat selbst ausführen und den dicken Mann schubsen. Weigerten sie sich, mussten sie dabei zuschauen, wie die die fünf Arbeiter überrollt wurden. Für den Test tauchten sie mit Oculus Rift in die VR-Umgebung ein und hatten rund zehn Sekunden Zeit, um über Leben und Tod zu entscheiden. Ein Moderator erklärte das Dilemma auf der Tonspur, beeinflusste aber nicht die Entscheidung an sich.

In der zweiten Situation wurden die Probanden mittels Fragebogen mit der Situation konfrontiert und mussten die Antwort nicht durch eine Handlung, sondern nur rein theoretisch und auf Basis eines Gedankenexperiments geben.

Schubsen leicht gemacht in der Virtual Reality

Das Ergebnis ist signifikant: In der theoretischen Prüfung gaben nur rund zehn Prozent der Probanden an, dass sie den dicken Mann für die fünf Arbeiter opfern würden. Rund 20 Prozent bezeichneten diese Entscheidung als moralisch akzeptabel.

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Wurden die Teilnehmer allerdings in die Virtual Reality transportiert und mussten die Entscheidung, selbst zu töten oder das Unglück geschehen zu lassen, virtuell vor Ort treffen, warfen ganze 70 Prozent der Teilnehmer den dicken Mann vor den Zug und retteten die Arbeiter.

In der Virtual Reality schubsen 70 Prozent der Probanden. BILD: Plymouth Universität

In der Virtual Reality schubsen 70 Prozent der Probanden, in der Theorie nur zehn Prozent. BILD: Plymouth Universität

Die Macher der Studie führen diesen krassen Unterschied unter anderem auf die stärkere Visualisierung in der VR-Welt zurück. Diese sei ausreichend explizit, sodass die Teilnehmer lieber den dicken Mann schubsen würden, als dabei zuzusehen, wie fünf Menschen von einer Bahn überrollt werden. Ein negatives Gefühl überwiege das andere, heißt es in der Studie.

Die Forscher gehen davon aus, dass solche moralischen Dilemmas mit der VR-Brille zukünftig deutlich akkurater untersucht werden können im Vergleich zu traditionellen Methoden. Die vollständige Studie kann hier eingesehen werden.

| Featured Image: Xiaoang Wan, Tsinghua University, CHINA