Jugendliche gestalten Europa in 360 Grad: Eine innovative Lernmethode verbindet Länder und Kulturen
Von TikTok zu 360°: Unsere Gastautorin erklärt, warum 360-Grad-Musikvideos der Schlüssel zu einer starken europäischen Identität sein könnten und stellt ein außergewöhnliches Schüler-Projekt vor.
Dieser Artikel wurde von unserer Gastautorin Stephanie Wössner verfasst und ist Teil ihrer MIXED-Kolumne über zukunftsorientiertes Lernen.
Angesichts der Herausforderungen, vor denen unser Bildungssystem steht, wird die Notwendigkeit eines zukunftsorientierten Lernansatzes immer deutlicher. Dieser bereitet die Lernenden darauf vor, aktiv und kreativ an der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft mitzuwirken.
Die rein passive Nutzung von 360°-Videos hat in diesem Zusammenhang keinerlei Potenzial. Die Erstellung von kreativen 360°-Videos kann jedoch vielfältige Kompetenzen fördern, indem sie die Lernenden in die Rolle von Gestalter:innen versetzt.
Gerade in der aktuellen politischen Landschaft, in der rechte Tendenzen an Bedeutung gewinnen, ist es wichtig, solche Bildungsprojekte zu fördern, da sie die Entstehung einer gemeinsamen europäischen Identität unterstützen und den Zusammenhalt stärken.
Inhalt
360-Grad-Musikvideos im Bildungskontext
Ein solches Projekt kann in fast allen Fächern und fächerübergreifend durchgeführt werden, da es viele Aspekte umfasst. Es eignet sich für alle Altersgruppen und Sprachen, da es thematisch flexibel und an alle Sprachniveaus anpassbar ist. Die folgende Beschreibung basiert auf dem Pilotprojekt „Grenzenlos: 360° Europa“, bei dem sich Jugendliche aus Deutschland und Frankreich mit der deutsch-französischen Freundschaft auseinandersetzten und ihre Gedanken zu ihrer europäischen Identität musikalisch ausdrückten. Der Videodreh fand auf der Fußgängerbrücke zwischen Kehl und Straßburg statt.
Ein zentraler Aspekt des 360-Grad-Projekts ist das Storytelling, das die Gegenwart reflektiert, in die Zukunft gerichtet ist und sich gleichzeitig auf die Vergangenheit bezieht. Das Erzählen von Geschichten ist eine soziale und kulturelle Aktivität, die in allen Kulturen der Welt Tradition hat.
In Europa verbinden Geschichten und Märchen die Generationen. Heute erzählen Jugendliche ihre eigenen Storys über TikToks und Instagram-Posts, um ihre Identität zu definieren und sich selbst zu finden. Musik spielt dabei eine wichtige Rolle, denn sie prägt seit jeher Generationen. Das Projekt bietet Jugendlichen einen Raum, ihre Geschichten musikalisch zu erzählen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten.
Bezug zum zukunftsorientierten Lernen
Das Projekt spiegelt die Ziele des zukunftsorientierten Lernens wider, indem es die Lernenden herausfordert, ihre eigenen Interessen und Talente in die Gestaltung eines 360°-Videos einzubringen. Sie bringen ihre Sichtweisen kreativ zum Ausdruck und erkennen, was sie verbindet und wie sie gemeinsam eine lebenswerte Zukunft mitgestalten können. Darüber hinaus reflektieren sie ihre eigenen Einstellungen und ihre Identität vor dem Hintergrund der kreativen Arbeit mit Jugendlichen aus anderen Ländern.
Sprachliche und interkulturelle Kompetenz
Durch die Auseinandersetzung mit der Freundschaft zwischen zwei Ländern und der Erstellung von zweisprachigen Songs entwickeln die Lernenden ihre sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen. Indem sie selbst in einer multinationalen Gruppe einen Song schreiben, einsingen und ein Musikvideo dazu drehen, verbessern sie ihre Sprachkenntnisse und ihre Fähigkeit, komplexe Themen klar zu kommunizieren. Der interkulturelle Austausch fördert das Verständnis und die Wertschätzung für unterschiedliche Perspektiven und kulturelle Hintergründe, was die Lernenden zu europäischen Bürger:innen macht.
Inklusion und Diversität
Das Projekt „Grenzenlos: 360° Europa“ legt großen Wert auf Inklusion und Diversität, indem es die Lernenden dazu ermutigt, Themen aus verschiedenen sozialen, kulturellen und historischen Kontexten auszuwählen, sie aus ihren unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren und sich auf ein gemeinsames Endprodukt zu einigen. Diese Vielfalt an Geschichten und Perspektiven schafft ein inklusives Lernumfeld, in dem sich alle wiederfinden können. Dies zeigt, wie wichtig Vielfalt und ein inklusiver Ansatz für die Gesellschaft sind. Da selbst Lerngruppen aus einem bestimmten Land nie homogen sind, sollte auch darüber nachgedacht werden, wie die Perspektiven von Menschen mit beispielsweise Migrationshintergrund berücksichtigt werden können.
Entwicklung von Medienkompetenz
Im Rahmen des Projekts entwickeln die Lernenden Medienkompetenz, indem sie moderne 360°-Videotechnologie nutzen, um Inhalte kreativ zu gestalten und zu präsentieren. Darüber hinaus fördern diese Aktivitäten in einem kreativen und künstlerischen Kontext ihre Fähigkeit, ihre Visionen mithilfe digitaler Medien auszudrücken.
Entwicklung von Zukunftskompetenzen
Das Projekt unterstützt die Entwicklung wichtiger Zukunftskompetenzen wie Teamfähigkeit, Kreativität und Empathie. Diese Fähigkeiten sind entscheidend für unseren gemeinsamen Sprung in die nächste Epoche, die menschliche Digitalität.
Bezug zu den Potenzialen von XR
Extended Reality schafft innovative Gestaltungs-, Begegnungs- und Kommunikationsräume, die das Lernen transformieren. Die Potenziale von 360°-Videos werden in diesem Projekt besonders effektiv genutzt. Bei der Produktion von 360°-Videos müssen die Lernenden berücksichtigen, dass anders als bei zweidimensionalen Videos dem Betrachter eine Rundumsicht möglich ist.
Das bedeutet, dass sie sich mit dem gesamten Kontext auseinandersetzen müssen, wodurch sie eine ganzheitliche Perspektive entwickeln und lernen, nicht nur einen Ausschnitt der Welt zu berücksichtigen. Die Nutzung der immersiven Technologie fördert also kritisches Denken und eine ganzheitliche Betrachtungsweise.
Zudem ermöglicht die Wahlfreiheit der betrachtenden Person, sich entweder als Beobachter:in oder als aktive:r Teilnehmer:in zu positionieren. So reflektiert die Person entweder von außen das im Song präsentierte Verständnis der gemeinsamen im Vergleich zur eigenen Identität oder wird Teil der Gruppe, womit die eigene Identität und die der Singenden verschmelzen.
Das nutzt das Potenzial von 360°-Medien, Emotionen anzusprechen und Lernprozesse zu fördern. Die interaktive Erfahrung stärkt also die Fähigkeit zur Reflexion und Empathie, wichtige Kompetenzen für die Gestaltung einer inklusiven und vielfältigen europäischen Identität.
Erstellung von 360° Videos
Für die Audioaufnahme, die am besten als Playback eingespielt wird, eignen sich mobile Geräte und die Software Reaper. Die Videoaufnahme gelingt mit einer beliebigen 360°-Kamera und einem unsichtbaren Selfie-Stick. Für den Videoschnitt können Videoschnittprogramme wie Adobe Premiere oder DaVinci Resolve verwendet werden.
Das fertige Video wird mit einem Vor- und Abspann versehen und auf YouTube hochgeladen. Bei minderjährigen Teilnehmenden muss für den Upload eine Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten und der Teilnehmenden vorliegen.
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Durchführung
Um ein solches Projekt durchzuführen, sollte mit mindestens zwei Lerngruppen aus verschiedenen Ländern gearbeitet werden. Welche Sprachen und Fremdsprachen wie eingesetzt werden, hängt von der Gruppenzusammensetzung und dem Sprachniveau ab. Selbstverständlich können auch Minderheitensprachen aus verschiedenen Ländern einbezogen werden. Alternativ kann das Projekt auch auf Deutsch und in einem multikulturellen Kontext in Deutschland durchgeführt werden.
Im Idealfall wird gemeinsam ein Thema gefunden, das dem Alter und dem Abstraktionsvermögen der Teilnehmenden angemessen ist. Dies können bei jüngeren Kindern lebensweltliche Erfahrungen wie der eigene Tagesablauf sein, bei älteren Jugendlichen aber auch politische Themen oder Identitätsfragen.
Workshop 1: Vorbereitung
Die Schülerinnen und Schüler üben den kreativen Umgang mit Reimtechniken und Rap als Grundlage für ihre späteren Songtexte. Die Gruppe lernt sich kennen und entwickelt erste Songideen.
Workshop 2: Songschreiben
In Kleingruppen schreiben die Lernenden zweisprachige Songtexte, die europäische Identität und Werte widerspiegeln, und wählen passende Beats aus.
Workshop 3: Aufnahme
Die Lernenden nehmen ihre Songs auf, üben Aussprache und Sprachmelodie.
Workshop 4: Videoplanung
Die Lernenden wählen einen Drehort und planen ihr Video. Sie erstellen ein Storyboard und diskutieren die visuelle Umsetzung ihrer Songs unter Berücksichtigung der besonderen Möglichkeiten der 360°-Technologie.
Workshop 5: Videodreh und Schnitt
Die Schülerinnen und Schüler drehen ihr Video und bearbeiten das Material. Sie lernen, wie man Aufnahmen schneidet, den Song hinzufügt und das fertige Video produziert.
Die Workshops 1 bis 4 können bei Bedarf auch per Videokonferenz durchgeführt werden. Der abschließende Videodreh findet bei einem Austauschtreffen vor Ort statt.
Fazit: 360°-Technologie als transformative Kraft in der Bildung
Das Projekt „Grenzenlos: 360° Europa“ zeigt, wie zukunftsorientiertes Lernen durch den Einsatz von 360-Grad-Videotechnologie das Lernen verändern kann. Es befähigt junge Menschen, als selbstbewusste, kreative und kritisch denkende Mitglieder der Gesellschaft unsere Zukunft und das menschlich-digitale Zeitalter mitzugestalten.
Durch den sinnvollen und kreativen Einsatz von Sprache und die Interaktion mit Technologie werden deren Möglichkeiten mit sozialer Verantwortung verbunden. So werden menschliche Fähigkeiten und Erfahrungen im Kontext digitaler Technologien reflektiert.
Kinder und Jugendliche lernen, die Potenziale der Technik zu nutzen, um sich auf das Wesentliche des Menschseins zu besinnen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen und andere zu inspirieren.
Unterstützung und Ressourcen
Eine ausführliche Handreichung beschreibt den gesamten Prozess detailliert. Zudem steht ein Padlet zur Verfügung, das zusätzliche Hilfen, Tipps und Tutorials bietet. Dieses Padlet ermöglicht es den Lernenden auch, ihre Videos zu teilen und sich mit anderen Projektgruppen auszutauschen.
Stephanie Wössner ist freiberufliche Referentin, u. a. für The Future:Project, und Beraterin für zukunftsorientiertes Lernen mit den Schwerpunkten Extended Reality, Game-based Learning, KI, Metaverse, Design and Futures Thinking. Hauptberuflich war sie über zehn Jahre Lehrerin und leitet mittlerweile die Stabsstelle Zukunft des Lernens am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Mehr unter steffi-woessner.de und petiteprof79.eu.
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